„Wir wissen, wer er ist“

Eine Mutter erinnert an die Schreie ihres ermordeten Sohnes. Die Noblen feiern: Chile nach dem Pinochet-Urteil  ■ Aus Santiago Ingo Malcher

Gelangweilt hängen die Carabinieri in ihren Panzerwagen und starren ziellos auf die vorbeirauschenden Berufstätigen und Studenten. Räumpanzer, Wasserwerfer und Hundestaffeln, Bleiwesten, Tränengasgranaten und Gummigeschosse – alles umsonst angeschleppt. Nur hier und da gibt es einmal ein kleines Scharmützel zwischen Pinochet- Anhängern und -Gegnern, nicht wirklich der Rede wert. Santiago de Chile am Nachmittag nach der Entscheidung. Fernsehmoderatoren versuchen herbeizureden, daß heute weniger Verkehr sei als sonst. Doch zur Rush-hour um sechs Uhr abends steht wieder alles auf der Hauptstraße, der Avenida O'Higgins. Fahrer zünden sich Zigaretten an oder suchen einen neuen Radiosender. Der Himmel über der Hauptstadt ist trüb, die Anden sind kaum zu sehen. Von der übergewichtigen Polizeipräsenz abgesehen, ist es ein Tag wie jeder andere in Santiago de Chile.

Fast. Etwas liegt in der Luft. Die Radiosender und Nachmittagszeitungen kennen nur ein Thema: Was haben die Lords in London wirklich zur Zukunft Pinochets entschieden? Rechtsgelehrte, Politiker, Soziologen, alle dürfen ihre Interpretation der Entscheidung zum Vortrag bringen. Jeder hat seine eigene Version, keiner Durchblick. Trotzdem feiern alle. Die Organisation der Angehörigen der Verschwundenen ist zwar etwas enttäuscht, aber dennoch zufrieden. Bei den Pinochet-Anhänger herrscht sogar Volksfeststimmung. Keiner hat verloren, alle gewonnen? Oder, wie die Zeitung La Tercera titelt: „Pinochet hat gewonnen ... und verloren“?

Nein, meint man im noblen Vitacura-Viertel. Gewonnen hat er. Hier ist Siegen eine Tugend, Verlieren ist etwas für Schwache, für Typen, die nicht durchhalten. In den schicken Villen mit ihren grünen Vorgärten läßt es sich gut leben. Der Lärm vom Zentrum ist nicht zu hören, und die Luft ist nicht von Abgasen verpestet. Wer genau lauscht, kann schon mal einen Vogel zwitschern hören. Nicht weit entfernt plätschert der Mapocho-Fluß, in dem am Tag des Militärputsches im September 1973 die Leichen von linken Sozialisten schwammen. Im Haus O'Brian-Straße 2244 will die Toten niemand gesehen haben, sie waren eine Erfindung der mit der Linken verbrüderten ausländischen Presse. Bei der „Stiftung Augusto Pinochet“, dem treuesten Diktator-Fanclub Chiles, hat man seine eigenen Wahrheiten. Die Straße glich am Vormittag einem illustren Kostümfest. Männer mit Pinochet- Masken über dem Gesicht und Frauen in den Farben der chilenischen Flagge, Rot-Weiß-Blau, tranken Sekt und grölten hohle Parolen. Aus den Lautsprechern donnerten Militärmärsche und verbündeten sich mit den Viva-Pinochet-Schreien zur Gruselrevue.

Auch im Inneren des Hauses – zu dem das gemeine Volk keinen Zutritt hatte – glaubte man in ein Casting für Geisterbahnfiguren geraten zu sein. Das Publikum glich einem Defilee von Lügnern, Folterern und Mördern. Ehemalige Militärs und Minister der Regierung Pinochet versammelten sich im größten Saal der Stiftungsvilla. Auch ihr General weilte unter ihnen. Mahnend blickte Pinochet in Öl von einem lebensgroßen Bild herunter.

Ausländischen Journalisten traut Luis Cortes Villa, Generalsekretär der Stiftung, auch heute nicht über den Weg. Ohne zu fragen, läßt er beim Gespräch ein Diktiergerät mitlaufen. In seinem engen, holzvertäfelten Büro reibt sich der pensionierte General zufrieden die Hände und feiert die Lord-Entscheidung als Triumph. „Alle Sachen, die Pinochet vorgeworfen wurden, sind vom Tisch“, freut er sich. Um seine Zufriedenheit zu untermauern, blättert er in einem Stapel Papiere, in denen er die wichtigen Stellen mit Textmarker angestrichen hat. „Hier, hier steht es“, wedelt er triumphierend mit dem Bündel Papier. „Der einzige Fall, der übriggeblieben ist, ist der von einem Marco Quezada.“

Quezada hatte 1988, zwei Jahre bevor Pinochet den Präsidentenpalast räumte, Plakate für den späteren Präsidenten Patricio Aylwin geklebt. Dabei wurde der 18jährige verhaftet und auf einer Polizeiwache gefoltert und ermordet. Sein Fall könnte nun, elf Jahre später, zu einer Auslieferung Pinochets an Spanien führen, da er im Auslieferungsantrag der spanischen Justiz angeführt wird und nach September 1988 geschehen ist. Die Pinochet-Anhänger allerdings haben ein quantitatives Verhältnis zu Menschenrechtsverletzungen: Eine ist keine.

Cortes Villa hat ohnehin seine eigene Version vom Tod von Marco Quezada. Stolz zeigt er eine Kopie des Polizeiberichts über den Todeshergang des Jugendlichen. Darin wird behauptet, daß Quezada wegen Diebstahl einsaß. „Von wegen Plakatekleben.“ Er sei von einem Wärter erhängt in seiner Zelle gefunden worden. Selbstmord? Zumindest wurden „keine Verletzungen gefunden, die von Dritten verursacht wurden“, liest Cortes Villa vor.

Man merkt dem General an, daß es ein langer Tag war. Seine Augen sind blutunterlaufen, seine ohnehin schon hohe Stimme gibt langsam nach. Wer aber ein Soldat ist, der hält durch. Denn mit diesen Unterlagen ist doch Pinochet freigesprochen: „Es ist nicht bewiesen, daß der Junge gefoltert wurde.“ Punkt. Nicht bewiesen. Und auch wenn er umgebracht wurde, was macht das schon für einen Unterschied? „Polizeiliche Exzesse gibt es überall, aber dafür ist doch der Präsident nicht verantwortlich.“ Damit ist für Cortes Villa der Fall erledigt: „Es wäre nicht logisch, Pinochet nach Spanien auszuliefern, weil ein Junge 1988 in einem Gefängnis gehangen hat.“ Tatsächlich hat ein Arzt als Todesursache von Marcos Quezada Elektroschocks festgestellt. Und seine Mutter, Nelida Yanez, eine einfache, schüchterne Frau, berichtet: „Seine Zellennachbarn haben seine Schreie gehört. Sie ließen ihn leiden.“

Das Kennzeichen der Rechten in Chile ist, daß sie unheimlich heuchlerisch ist. Sie ist in der Lage, die allerschlimmsten Verbrechen zu rechtfertigen“, sagt Juan Pablo Letelier. Alle von ihnen gehen am Sonntag in die Kirche, gehen zur Beichte und bekreuzigen sich, wenn sie an einer Kirche vorbeikommen, redet sich der Abgeordnete der Sozialistischen Partei wütend. „Man muß sich das einmal vorstellen, es gibt in diesem Land Leute, die wissen, wo die Verschwundenen sind, und sagen es nicht. Es gibt Leute, die wissen, welche Ärzte gefoltert haben, und sagen es nicht; diese Ärzte praktizieren noch immer.“ Der gebohnerte Parkettboden der Deputiertenkammer Chiles, im Zentrum Santiagos, quietscht, wenn Letelier mit seinen Gummisohlen durch die Eingangshalle läuft. Seine schwarzen, schulterlangen Haare wedeln leicht, als er die Wachposten grüßt.

Juan Pablos Vater Orlando war Minister und enger Freund von Salvador Allende. Das erste Wort, was Juan Pablos älterer Bruder sagen konnte, war „Allende“. Zur Zeit von Richard Nixon war Orlando Letelier Botschafter des sozialistischen Chiles am Weißen Haus in Washington, danach Außen- und später Verteidigungsminister. Bei dem Putsch gegen Allende am 11. September 1973 ist Juan Pablo Letelier zwölf Jahre alt. Danach beginnt eine schlimme Zeit für die Familie.

Ein Jahr lang wird Orlando Letelier von einem Gefangenenlager ins andere geschleppt. Schließlich wird er 1974 ausgewiesen, einen Monat später kann die Familie nachkommen und zieht ins Exil in die USA. „Mein Vater wollte die Opposition gegen das Pinochet- Regime organisieren“, erinnert sich Letelier, „da erschien ihm Washington ein guter Ort.“ An einem Tag im Jahr 1976 wird Juan Pablo aus der Schule geholt: Sein Vater habe einen Unfall gehabt. Zusammen mit seiner Sekretärin wurde er in seinem Auto auf offener Straße in die Luft gesprengt. Der Täter wurde nie gefunden. Immer wieder war von einem beteiligten US-Agenten die Rede. Vor einigen Jahren schließlich wurde in Chile der ehemalige Geheimdienstchef Manuel Contreras verurteilt. Er soll den Auftrag zur Ermordung Leteliers gegeben haben. Heute sitzt er in einem eigens für ihn gebauten Luxusgefängnis.

Das hat „mit dem zu tun, was wir heute sind“, sagt Juan Pablo Letelier leise. Seit 1989 ist er Abgeordneter. Nach Chile ist er schon 1983 nach einem Ökonomiestudium in Mexiko zurückgekehrt, „um für die Demokratie zu kämpfen“, wie er heute sagt. Von 1983 bis 1990 wurden Freunde von ihm gefoltert und ermordet. Er selbst kam davon. „In dieser Zeit habe ich gelernt, was Schmerz ist“, erzählt er langsam und mit ernster Stimme, „und wie menschlich Schmerz ist.“ Im Fernsehen beginnen die Abendnachrichten, es werden die Bilder aus London wiederholt, von dem Moment, in dem die Lords ihre Entscheidung vorlesen. Das Telefon von Letelier klingelt, ein Parteikollege ist dran und will sich mit ihm über die Entscheidung freuen. Daß es am Ende nur ein einziger Fall sein könnte, für den Pinochet vor Gericht gestellt wird, kümmert Letelier nicht. „Al Capone kam doch auch wegen Steuerhinterziehung ins Gefängnis. Wir alle wissen, wer Pinochet ist“, sagt er.

Für seine Anhänger ist Pinochet ein Gott. Bislang war er bislang in Chile ein unantastbarer Superman. Seit seiner Festnahme in London steht er plötzlich da wie ein gemeiner Verbrecher, dem ein Verfahren droht. Seinen sieggewohnten Verehrern tut das in der Seele weh. Deswegen blähen sie sich auf, zeigen Drohgebärden. Das Wissen, daß sie es mit einem übermächtigen Gegner zu tun haben, macht sie nur noch wütender. Am Montag noch ließ der Armeechef Heer, Marine und Luftwaffe auf den Straßen in Santiago paradieren. Dabei verteidigte Luftwaffenchef Fernando Rojas Vender die Ehre seiner Soldaten: Niemals habe die Luftwaffe ihre Waffen gegen die chilenische Verfassung gerichtet. Es war die Luftwaffe, die am 11. September 1973 den Präsidentenpalast La Moneda bombardierte.

Auch Cortes Villa glaubt an die Soldatenehre. In seinem Büro steht ein Gipskopf mit nachgebildetem Stahlhelm, den er als Abschiedsgeschenk vom Militär überreicht bekam. „Das ist ein deutscher Helm“, doiziert er, „in der chilenischen Armee halten wir die deutschen Traditionen hoch, viele Ausbilder kamen zu uns an die Militärakademie. Ohne daß wir jetzt Nazis sind – aber wir sind stolz auf die Geschichte der deutschen Wehrmacht.“ In einer Glasvitrine hängt seine Sammlung zahlloser Orden, auf einem Foto ist er mit Augusto Pinochet abgebildet. Ganz klein neben seinem Computer steht ein am Kreuz hängender Jesus. Cortes Villa zieht nervös die Schreibtischschublade auf, holt eine Dose Büroklammern hervor und schiebt sie in der rechten Hand hin und her. „Wenn die Zeit vergeht, wird der Welt klarwerden, daß Chile vor 1973 eine schwere Zeit durchlebt hat und daß es Pinochet war, der uns vom Kommunismus befreit hat.“

Juristisch steht das Auslieferungsverfahren gegen den Ex-Diktator nach dem Spruch der Lords auf schwachen Beinen. Es geht nun um juristische Spitzfindigkeiten, nach denen am Ende die Auslieferung Pinochets zu einer rein technischen Frage verkommt. Für Juan Pablo Letelier ist daher der Ausgang des Verfahrens nicht von allzu großer Bedeutung. Was zählt, ist der symbolische Wert: „Die Geschichte weiß, daß Pinochet ein Diktator ist. Es ist mir egal, ob er auch nur einen Tag im Gefägnis sitzt. Viel wichtiger ist, daß er als ein Verbrecher gebrandtmarkt wird – und daß in Chile Wahrheit und Gerechtigkeit einkehren.“