Allein gegen die Mafia

Die Welt ist fern und Rettung nur von Gott, dem Zaren oder der EU zu erhoffen: Ilja Trojanow hat Bulgarien bereist und die dortigen „Hundezeiten“ gründlich studiert  ■ Von Thomas Groß

Daß es so nichts werden würde mit der schönen neuen Demokratie – die Hunde verrieten es zuerst. Wenn sie sich nicht in Rudeln zusammenschlossen und das Wild in den Wäldern rissen, fielen sie übereinander her. 100.000 von ihnen sollen sich in den Straßen der Hauptstadt herumtreiben, verwahrloste Köter, die von ihren Besitzern ausgesetzt wurden.

Allerdings ist Tierhaltung auch ein schwieriges Unterfangen, wenn selbst die Menschen nicht satt werden. „Hundezeiten“ heißt Ilja Trojanows jüngstes Buch. Gegenüber dem Erstling „Die Welt ist groß und Rettung lauert überall“ deutet das einen gewissen Utopieverlust an, der kaum dem Naturell des Autors geschuldet ist. Er gilt als „putzmunterer“ (Spiegel) Hoffnungsträger, einer, der hochpostmodern mit einem „Internet-Roman“ experimentiert und nebenher noch zwei Kleinverlage gegründet hat. Der Ton kommt von anderswo. Trojanow hat Bulgarien bereist, das Land, aus dem er 1971 mit seinen Eltern geflüchtet ist.

Schreiben aus der Deckung des Kollektivs

Bulgarien zeichnet sich, vom Westen gesehen, durch weitgehende Unsichtbarkeit aus. Selbst die Ostler fliegen jetzt lieber nach Mallorca. Mediale Zuwendung gab es nur kurz, als – im Zuge des Umbruchs in Osteuropa, der den südlichen Satelliten zuallerletzt erreichte – im Fernsehen ein paar blutige Köpfe zu sehen waren. Doch Trojanow will nicht einfach ein Fenster öffnen auf ein armes Land, dessen Bevölkerung damit beschäftigt ist, nicht buchstäblich vor die Hunde zu gehen: „Hundezeiten“ ist ein Reportage-Essay, der am Beispiel Bulgariens nachvollziehbar machen will, was seit 1989 geschah, „wie sich die Details einer Entwicklung darbieten, der in jedem Artikel und in jeder Sonntagsrede das Prädikat ,historisch‘ verliehen wird“. Das ist viel. Aber einer mußte es tun. Nach 300 Seiten versteht man, warum.

Die bulgarischen Literaten etwa: Seit der Wende dürfen sie endlich schreiben, was sie wollen, aber sie machen nur zögernd Gebrauch davon. Eine zeitkritische Literatur, die internationalen Standards gerecht würde, existiert ebensowenig wie eine analytische Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit. Bulgariens Autoren bleiben nebulös, weil sie immer noch aus der kollektiven Deckung heraus schreiben, „in einem totalitären System seien alle Opfer“, es gebe keine Unterschiede, „da das System alle Bereiche des Lebens umfaßt und der einzelne keine Möglichkeit hat, sich ihm zu entziehen“.

Wie sehr diese Einschätzung Trojanows zutrifft, bestätigt ein Blick in die Eigenwerbung der Leipziger Buchmesse, wo Bulgarien in diesem Jahr als Länderschwerpunkt firmiert. „Ihre Gedichte sind leicht lesbar und enthalten tiefgründige Metaphern, die die ursprüngliche Reinheit der Gedanken, Empfindungen und Träume von Gottheiten und fernen Welten spiegeln“, wird dort der Literaturkritiker Sdrawko Peev zitiert, der solches über die Lyrikerin Kristin Dimitrova sagt. Frau Dimitrova schreibe im übrigen „mit vertrauter Zärtlichkeit und seliger Gemütlichkeit“. Was innerbulgarisch als höchstes Lob gilt, gleicht anderswo einem ästhetischen Todesurteil. Aus diesem Umstand erklärt sich die Tatsache, daß bulgarische Literatur von Relevanz heute aus dem Ausland stammt, von Exilanten oder einer sentimental dem Lande verbundenen Autorin wie Angelika Schrobsdorff, die in der Lesereihe zur Buchmesse denn auch umstandslos der bulgarischen Literatur zugeschlagen wird.

Trojanows „Heimkehr in ein fremdes Land“ (Untertitel) hat die schmerzliche Schärfe einer stellvertretenden Trauerarbeit. In Kenntnis der deutschen Debatten um Schuld und Erinnerung seziert er die Grundlagen einer umfassenden Geschichtsvernichtung. Das alte Lied: Weil die Vergangenheit tabu ist, kann das Land nicht in der Gegenwart ankommen, und weil so ein Schleier über der Gegenwart liegt, muß Rettung wahlweise von der EU, Gott oder dem Zaren kommen, dessen Rückkehr allen Ernstes diskutiert wird in Bulgariens Zeitungen. Derweil haben die realen Machtverhältnisse bloß eine zeitgemäßere Form angenommen, die marktwirtschaftlich befreiten Preise schnellen vor Freude in die Höhe, während Einkommen und Renten am Boden bleiben. Im heutigen Bulgarien, so Trojanow in Umkehr des Bibelwortes, sind die Letzten die Allerletzten.

Alte Pfründen, in neue Staatsform überführt

Originell ist dabei weniger die These, der Totalitarismus habe seine Spuren in der Mentalität der Menschen hinterlassen, als die Art ihrer Umsetzung. Trojanow hat Interviews mit Arbeitern geführt, die noch unter den Bedingungen des 19. Jahrhunderts schuften. Er hat Belene bereist, einen Niemandsort im Niemandsland. Auf dieser idyllischen Donauinsel, die Ornithologen wegen ihrer seltenen Pelikanart anzieht, wurden in den Nachkriegsjahren Oppositionelle willkürlicher Herkunft zu Tode gequält, ihre Leichen gekocht, zermahlen, an Hühner verfüttert, die ins Ausland exportiert wurden, bevorzugt nach Italien. Heute sitzen die altgewordenen Überlebenden, die sogenannten „Repressierten“ in einer Kneipe der Innenstadt von Sofia nicht etwa als Helden, sondern als Parias um eine Flasche Schnaps herum. Hundezeiten: Wenn gegen Mittag die „Bizinessmen“ mit ihren Handys eintreffen, müssen sie dem neuesten Imponiergehabe weichen.

Bulgarien ist ein Land, das, in Übererfüllung realsozialistischer Planspiele, seine Dissidenten dermaßen gründlich ausgerottet hat, daß keine mehr auffindbar waren, als die Geschichte plötzlich nach ihnen verlangte. Die Spezies mußte gleichsam neu erfunden werden. Trojanow beschreibt, wie – auch unter Mithilfe westlicher Medien – die Akteure rekrutiert wurden, wie letztlich eine kleine Gruppe, ein Klub zur Unterstützung von Glasnost und Perestroika, sich als Inkubator für künftige Politiker und Staatsmänner erwies. Und entwickelt dabei seine zentrale These: Was im Ausland als Revolution wahrgenommen wurde, war kein Prozeß gegen die alte Priviligenzija, sondern deren gelungener Schachzug. Die „sanfte Demokratisierung“ – ein Stück Polittheater, das inszeniert wurde, um alte Pfründen in eine neue Staatsform zu überführen.

Trojanow hat gründlich recherchiert. Er verfolgt den komplizierten Prozeß der Parteienbildung, in dem der bürgerlich-konservative Block als Resonanzkörper unverstandener Demokratieideale fungierte, während seine Anhänger sich nicht einmal einigen konnten, ob sie Republikaner oder Monarchisten sein wollten. Er unterzieht die letzte Rede Todor Schiwkows als allmächtiger Staatspräsident einem close reading – und findet unter dem Parteisprechgeröll die Grundzüge des Kurswechsels ausformuliert. Er zeichnet nach, wie die neue Linie sich konkret durchsetzt, Struktur wird, während die Opposition mittels spendierter Faxgeräte naiv Parlamentarismus spielt.

Im letzten Kapitel untersucht Trojanow die Verflechtung von Staat, Altelite, „Bizinissmen“ und deren Privatarmeen, als „Mafia“ sprichwörtlich geworden. Eine mißverständliche Bezeichnung, weil sie an sizilianische Familienclans denken läßt, während es sich tatsächlich um straff organisierte Teile des Staatsapparats handelt. „Luftverkäufer“ nennt sie der Volksmund, weil sie ihre Klienten vor einer Bedrohung schützen, die sie selbst darstellen. Damit hat es die bulgarische Ausbeuterschicht nicht nur geschafft, dem Land einen Spitzenplatz in den weltweiten Korruptheits-Charts zu sichern, sie wird auch immer reicher. Nach einer Untersuchung von Luxemburger Finanzinstituten übersteigt das auf sicheren, das heißt nichtbulgarischen Konten angelegte Vermögen mit 25 Milliarden US-Dollar die Auslandsschuld des Landes um mehr als das Doppelte. Aber „wer investiert sein Geld schon freiwillig in Länder, die er selber unsicher macht“?

Schwarzer Humor als Überlebensdisziplin

Man begreift, warum die Alltagssemiotik in Bulgarien mehr denn je zur Überlebensdisziplin geworden ist: Wer unter solchen Konditionen keine Zeichen zu lesen versteht, kann schnell sehr alt aussehen. Trojanow hilft bei der Übersetzung gen Westen. So plastisch, gründlich und trocken sind die Ursachen für die permanente Misere im Vorhof der alten Sowjetunion selbst von journalistischen Schriftstellern wie Richard Swartz und Ryszard Kapuscinski nicht beschrieben worden, die im Anhang genannt werden. „Hundezeiten“ ist ein exzellentes Buch über unerträgliche Verhältnisse. Auswege aus der auch selbstverschuldeten Unmündigkeit hat es naturgemäß nicht zu bieten, wohl aber große Gaben jenes schwarzen Humors, ohne den Bulgarien ganz im Koma läge.

Als etwa einmal die Handelswirtschaftsvereinigung Kleidung und Schuhe eine Lieferung italienischen Schuhwerks erhielt, legten die Sofioter ein durchschnittliches Wochengehalt für ein elegantes Paar hin. Doch das Unglück wollte es, daß es regnete und sich die Schuhe an den Füßen auflösten. Auf Druck der erzürnten Kunden schrieb die Vereinigung nach Italien. Der Produzent versprach Klärung: „Wir haben unsere Experten auf den Weg geschickt, um dieses Phänomen zu untersuchen. Hochachtungsvoll, Präsident und Generaldirektor der Firma ,Der Letzte Spaziergang‘, Hersteller von Beerdigungsschuhwerk.“ Solche Geschichten erzählt man sich in Bulgarien. Und lacht dazu aus schlechtem Gebiß.

Ilja Trojanow: „Hundezeiten. Heimkehr in ein fremdes Land“. Hanser Verlag, München 1999, 313 Seiten, 36 DM