Gefallener Engel

■ Der Teufel als sensibler Held: Naeem Murrs Roman „Es nähme einer mich plötzlich ans Herz“

Der Zauberlehrling Naeem Murr hat wider Willen einen kindlichen Dämon erschaffen. Sein Roman, der im Englischen unter dem Titel „The Boy“ erschienen ist, hätte im Deutschen eigentlich „Das Balg“ heißen müssen, denn es geht um ein ungezogenes, ja dämonisches Kind zweifelhafter Herkunft, das von einem abtrünnigen Jesuiten sicherlich nicht ohne Grund ein „Wechselbalg“ genannt wird. Schön ist das Kind wie Luzifer und klug, aber auch böse und melancholisch wie der gefallene Engel.

Obschon in Sünde gezeugt, um früh eine Tournee durch Pflegefamilien und Waisenhäuser anzutreten, rührt seine bodenlose Schändlichkeit keinesfalls von den immer naheliegenden üblen „Umständen“, obschon er selbst stets der erste ist, sie anzuführen, wenn es darum geht, seine verruchte Existenz zu rechtfertigen. Tatsächlich scheint seine Bosheit pränataler Natur zu sein. Schon der erste Roman des jungen irisch-libanesischen Schriftstellers Naeem Murr gehörte zum phantastischen Genre, und auch in seinem neuen Buch geht es übersinnlich zu: Hier ist eine Inkarnation des Teufels am Werk. Die Einfühlsamkeit des jungen Helden der Geschichte ist so unermeßlich und seine Sensibilität so unübertroffen, wie seine Zwecke niederträchtig sind.

Die Personen, die ihm deshalb nahestehen, weil er sie an sich fesselt, indem er ihnen gibt, was sie nur heimlich begehren, werden einer nach dem anderen vernichtet, vom homosexuellen Freier über den polymorph perversen Heimleiter bis zur asketischen Ex- Nonne, vom Pflegebruder, den er ermordet, über die Pflegeschwester, die er verführt und in den Tod treibt, bis zum Pflegevater, dessen Ehe er zerstört und dessen physische Vertilgung bereits geplant wird. Wahrlich ein Teufelskind könnte dieser Junge sein, der sich ständig verwandelt, von einer Rolle in die nächste schlüpft, der genauso eine verführerische junge Frau zu spielen vermag wie einen abgebrühten Stricher, der von beinahe jedem mit einem anderen Namen genannt wird: Tobias, Devon, Durward, Priestly, Alex... Vielgestaltig, wie nur Satan ist.

Statt dessen heißt der Roman aber „Es nähme einer mich plötzlich ans Herz“, und dieses manirierte Rilke-Zitat verschiebt die Erwartungshaltung des Lesers. Denn der zwölfjährige Junge, der Keats und Nietzsche zitiert, um pubertierende Mädchen zu verführen, der alle schwarz-romantischen Abgründe des Katholizismus überblickt, um eine Nonne zu quälen, wirkt altklug und unglaubwürdig, wenn er kein Dämon sein darf, sondern ein armer Waisenjunge, dem das Schicksal übel mitgespielt hat und der nur davon träumt, daß ihn in dieser schlechten Welt endlich einer fest ans Herz drückt.

Naeem Murr konnte sich offenbar nicht so recht entscheiden, ob er eine gothic novel oder eine Stricherbiographie schreiben wollte, und so gerät manches zum unwahrscheinlichen Klischee. Doch ist es Murrs Verdienst, daß sein satanischer Protagonist dies aushält und seine bizarren, klandestinen Pläne bis zum Ende verfolgt. Der wunderbar konstruierte, konsequent psychophatische Showdown versöhnt mit allen deplazierten Keats- Zitaten und Nietzsche-Anspielungen – und sogar mit dem affektierten deutschen Titel. Niels Werber

Naeem Murr: „Es nähme einer mich plötzlich ans Herz“. Roman. Aus dem Englischen von Rudolf Hermstein. Luchterhand Literaturverlag, München 1999, 240 Seiten, 32 DM