Der rechtzeitige Ausstieg

■ Mit der Form seines Rücktritts und mit seinem Schweigen drückt Lafontaine aus, daß die Post-Parteien-Zeit entgültig eingetreten ist

Die unbedarfte Reaktion der meisten Medien auf seinen Rückzug gibt noch im nachhinein Oskar Lafontaine ebenso recht wie das erschreckte Unverständnis vieler Koalitionspolitiker, vor allem der Linken. Was sie alle besonders erbittert, ist sein Schweigen. Die paar Brösel von Scheinerklärung, die er ihnen hinwarf, drückten erst einmal Verachtung für den derzeitigen Politikbetrieb aus. Gerade seine Nichtbegründung aber war auch eine Ankündigung: Durch den moralischen Offenbarungseid für die Sozialdemokratie schaffe ich mir eine Voraussetzung für meinen Neuauftritt. Das verlangt nicht nur eine Preisgabe der linken Restbestände, die ich soeben noch für den Sieg der rechten Neuen- Mitte-Männer mobilisiert hatte. Das verlangt auch konsequentes Fernhalten vom leeren Durchwursteln der politischen Klasse in ihrer jetzigen Gestalt – die in Deutschland wie fast überall in Europa keinen Halt mehr findet. Die Neue Mitte der Blairs und Schröders ist nur der Ausdruck ihres unaufhaltsamen Autoritätsverfalls. Wer sich in diesen Strudel hineinziehen läßt, wird sich schnell ruinieren, ohne irgendeinen Gewinn.

Eben dieses Signal der stillschweigenden Distanzierung hat der Kanzler zu fürchten, der auf einmal nicht mehr der Künder des Neuen ist, sondern der Verteidiger der alten politischen Klasse als solcher. Ihm muß nun dämmern, daß er vielleicht schon übers Jahr in eine große Koalition gerutscht sein wird. Freilich eine andere, als er sie sich im vergangenen September erhofft hatte. Nun als ein Notbündnis der zwei maroden Volksparteien, die sich aneinander klammern müssen. Höchstens zwei Wahlentscheidungen gegen die Grünen, und es wird soweit sein. Und so lange wird Lafontaine schweigen können.

Diese Verzweiflungskoalition ohne Substanz wird dann bald den nächsten Offenbarungseid leisten müssen. Und dies mitten im schwarzen wirtschaftlichen Abschwung, den jetzt nur noch eine Minderheit von unverbesserlichen Illusionisten für unvermeidlich hält. Auch mitten in der Erhitzung des amerikanisch-europäischen Konflikts, der sich desto weniger dämpfen läßt, je härter um den Euro gekämpft werden muß.

Mit der Form seines Rücktritts und mit seinem Schweigen darüber drückt Lafontaine aus, daß nunmehr die Post-Parteien-Zeit endgültig eingetreten ist. Die Neue Mitte selbst war es ja, die das Ende der repräsentativen Demokratie im Parteiensystem herbeiführen wollte. Hier habt ihr es nun. Diese Leute wollten ja selbst, daß es von nun an nur noch Winner und Loser geben soll. Und daß die Parteien vom Positionskampf der Amtsinhaber höchstens den Begleitchor stellen dürfen – der nur eine einzige Melodie des Einheitsdenkens singen kann. Wenn er wiederkommen sollte, das wollte Lafontaine ausdrücken, dann kann er es nicht als Exponent des alten Parteienbetriebs und dieser SPD tun. Deswegen kann er zusehen, wie Schröder die SPD an den Baum fährt.

Das ist böse Kunde für die in Europa fast überall noch regierenden Sozialdemokraten, an denen das Sozialdemokratische von Tag zu Tag abnimmt. Schmerzlich vor allem für die reformierten Sozialisten der lateinischen Bezirke.

Noch deutlicher als bisher scheiden sich ja von nun an die sozialdemokratischen Restgebilde im protestantisch-liberalen Nordwesten unter dem Etikett der Neuen Mitte von den staats- und republikverbundenen Sozialdemokraten des Südens. In einer gemeinsamen europäischen Verfassung, die nun brennend notwendig wird, sind sie heute nicht zu sehen. Schon gar nicht an einer gemeinsamen Arbeit dafür. Einem Schröder sind Begriffe wie Konstitution und Republik völlig fremd. Wolfgang Clement, der sein Mann ist, hat soeben in Düsseldorf demonstriert, wie diese neue SPD, die den ehemaligen Etatismus der Partei nun überkompensiert, sich die Politik ohne Staat und republikanische Legitimität vorstellt.

Dies ist das Credo der Neuen Mitte, das Lafontaine mit der Form seines Weggangs verhöhnt: Wenn es nur eine einzige Möglichkeit politischen Handelns gibt, die nur weniger gut oder schlecht exerziert werden kann, dann braucht der Staat keine politische Legitimität durch den Parteienkonflikt mehr. Dann sind Parteien überflüssig, werden nur noch als Krücken für den Aufstieg jeweiliger Führer gebraucht. Die bleiben solange dran, wie ihre Kraft reicht. Es kann also keine politischen Ziele geben, die sich parteiförmig zusammenfassen – und im Regierungsgebrauch zum Erfolg oder Mißerfolg führen ließen.

Das heißt auch, daß Partei nur sein kann, was regiert. Für die Neue Mitte gibt es, das liegt in ihrem liberaltotalitären Begriff, keine politische Opposition in Form einer Partei. Wer nicht regiert, ist einfach politikunfähig, er kann kein politischer Widerpart und Gegner sein. Deswegen lohnt der Streit mit ihm nicht, auch wenn man ihn aus Höflichkeit vor den Medien mitmacht. Aus Konflikten, in denen sich die Bewegung der Gesellschaft darstellt, kann man nichts Besonderes lernen. Die Demoskopie und die Wahlergebnisse geben Orientierung genug.

Die heutige europäische Realität scheint der realexistierenden Mitte, die eine Idee nicht sein kann und sein will, erst einmal recht zu geben. Fast überall regieren sogenannte Sozialdemokraten, und fast überall stehen sie nur noch schwach zuckenden Parteiresten gegenüber, die man politische Opposition nicht nennen kann. Politisch konservativ in politischer Marschordnung, das kommt allenfalls noch in der Ordnungszelle Bayern vor. In Frankreich, in Deutschland, in England, in Italien, nirgends mehr gibt es aktionsfähige, um bestimmte Ideen versammelte Formationen der Rechten. In Spanien andererseits sind die aus langer und erfolgreicher Regierung geworfenen Sozialisten so gut wie nichts, ohne Moral, ohne Geist, ohne Rückgrat.

Was gerade weg ist und nicht die Bühne hat, wird auch nicht verlangt. Eine modern-konservative Rechte, die sich den Als-ob-Sozialdemokraten der Neuen Mitte entgegenstellen könnte, wird offensichtlich nirgends vermißt. Das ist in Deutschland ebenso wie in Frankreich und in England.

Nur die Massenmedien, die Lafontaine für den Exponenten des alten Staatssozialdemokratismus halten, möchten annehmen, daß es mit ihm aus diesem Grunde zu Ende ist. Bald wird es Schröder sein, der als überholter Industrialist und Korporatist inmitten der blockierten Interessengruppen dastehen wird. Und diesmal wird es die Partei sein, die ihrem Vorsitzenden von der Fahne geht. Claus Koch