Fruchtlose und unehrliche Debatten

■ Auf dem Weg zum Bürgerstaat (8): Das neue Einbürgerungsgesetz ist kein revolutionärer Akt, es vereinfacht lediglich, was schon lange möglich ist. Wichtiger für die Zukunft wäre ein Einwanderungsgesetz

So viel Sturm im Wasserglas war noch nie. Was vor ein paar Monaten als Umsturz und Durchbruch verkündet wurde, gleicht nun der Steuerreform zum Verwechseln: das grüne Einbürgerungsgesetz. Rot-Grün wollte das revolutionäre Einbürgerungsgesetz mittels der Rhetorik der Integration und der Appelle an das Schamgefühl vor den „zivilisierteren“ Staaten für die Mehrheit genießbar machen. Es gibt aber etwas Wichtigeres als die Sicherung der eigenen Machtpräsenz, nämlich die gesellschaftliche Realität. Die Weigerung, sie zu erkennen, hat falsche Prioritäten zur Folge.

Die Reform des Einbürgerungsgesetzes, obschon fällig, hat nicht die Dringlichkeit, wie sie suggeriert wird. Es ist eine Illusion zu glauben, daß es erstes Ziel aller Ausländer ist, Deutsche zu werden. Zum großen Teil ist dieser Eindruck infolge der Lobby-Arbeit ausländischer Verbände entstanden, die um ihren politischen Einfluß bangen. Deutscherseits ist die Vorstellung von der Priorität des Einbürgerungsgesetzes vor anderen dringlichen Reformen eher ideologischer Natur. Die Tilgung des angeblich „Völkischen“ gehört zum Vorrat an linken Selbstzerstörungsphantasien, wie das „Recht auf Heimat“ in die Identität der Rechtsaußen eingeschweißt ist. Dabei ist die Ergänzung des Jus sanguinis durch das Jus soli gar kein revolutionärer Schritt. Das Jus sanguinis existiert in Reinkultur schon lange nicht mehr. Die Möglichkeit der Einbürgerung ist gegeben; es kommt lediglich auf eine Verkürzung und Vereinfachung des bürokratischen Verfahrens an.

Diese Veränderungen könnten ohne Lärm und martialischen Kampf eingeleitet werden. Zumal viele Ausländer ihre Einbürgerung beantragt hatten und ruhig auf die Entscheidung warteten. Dann wurden sie plötzlich durch die „grüne Revolution“ aufgemischt und zogen ihre Anträge zurück. An die Stelle einer routinemäßigen Eindeutschung sind Ungewißheit und Verwirrung getreten. Ein Beitrag zur Integration war das jedenfalls nicht.

Die fruchtlosen und unehrlichen Debatten um die doppelte Staatsangehörigkeit kaschieren indes die Dringlichkeit eines Einwanderungsgesetzes, das mit der Frage, wie die Staatsangehörigkeit erlangt wird und wie viele Identitäten der Ausländer braucht, in keiner unmittelbarer Relation steht. Deutschland braucht Einwanderung, aber es braucht nicht jede Einwanderung.

Im europäischen Modernisierungsprozeß wurde die Landbevölkerung immer geringer, die Zahl der Industriearbeiter und Städter wuchs beständig. Nun strömen wieder ländliche, ungelernte Migranten aus der Dritten Welt in die Städte, die große Integrationsschwierigkeiten haben und in der postindustriellen Arbeitswelt auf der Strecke bleiben. Der Bedarf an jungen, gebildeten, städtischen Migranten, an qualifizierten Arbeitskräften existiert, kann aber ohne die Legalisierung der Einwanderung nicht befriedigt werden. Im Gegensatz zum Einbürgerungsgesetz, das, bei allen Meinungsunterschieden, in allen politischen Lagern gewollt wird, stößt das Einwanderungsgesetz auf zähen Widerstand, auch in der Bevölkerung.

Die Immigration von Arbeitskräften verschreckt die regulierte, arbeitsknappe und verbeamtete Gesellschaft, man befürchtet eine verschärfte Konkurrenz und sinkende Löhne. Deutschland nimmt ohnehin die meisten Asylsuchenden in Europa auf. Damit glaubt man mögliche Einwandererquoten schon überfüllt zu haben. Es zieht aber auch die Frage nach einer Modernisierung des Asylrechts nach sich, die sich niemand gerne stellt, weil er sich eingestehen müßte, daß die Zeiten härter werden und Menschenrechte, Humanismus, Mitleid immer mehr durch Überlebenskämpfe relativiert werden.

Die Asylsuchenden und Bürgerkriegsflüchtlinge, die sich in Deutschland aufhalten, werden materiell versorgt, aber sie haben kein Recht auf Arbeit und vegetieren jahrelang ziellos dahin. Auch die Familienangehörigen der Ausländer erhalten eine Arbeitserlaubnis erst nach vier Jahren: Selbstverständlich gehen die Arbeitsqualifikationen in der Zeit verloren. Ein derartiger Umgang mit „Humankapital“ ist der eigentliche Skandal der humanen Gesellschaft, die vorgibt, für die Zukurzgekommenen dieser Welt offenzustehen.

Die klassischen Einwanderungsländer sind Inseln: die USA, Kanada, Australien. Abgesehen von der mexikanischen Grenze, die den USA zu schaffen macht, sind diese Staaten überwiegend per Luft zu erreichen. Bis vor wenigen Jahrzehnten war dies ein bedeutendes Hindernis für eine nichtkontrollierte Einwanderung. Die Migranten stellen in der Regel Anträge in den Botschaften oder Agenturen in ihren jeweiligen Heimatländern und werden nach speziellen Verfahren, inklusive medizinischer Tests, ausgewählt. Dabei spielen Sprachkenntnisse, Beruf und sogar schulische Erfolge der Kinder eine entscheidende Rolle, weil diese Länder die Einwanderung im Sinne der Interessen der eigenen Gesellschaft und nicht der Bedürftigen steuern.

Europa liegt auf dem Kontinent, und seine Grenzen sind porös. Tausende Migranten überschreiten sie tagtäglich. Deshalb ist hier der Einwanderungsdruck in vielen Hinsichten stärker als in Übersee. Trotzdem kann die Situation, in der auf Grund zahlreicher Sonderregelungen faktisch eine Einwanderung stattfindet, die sich aber klaren Regeln, Transparenz und Kontrolle entzieht, nicht mehr länger geduldet werden. Man wird ihrer auch gar nicht mehr Herr. Hinter der politischen Korrektheit, die diese Themen in der Rubrik „Staatsangehörigkeit“ unterbringt, verbirgt sich die Schwäche der Politik, die mit den härter werdenden Bedingungen der Globalisierung nicht mehr zurechtkommt. Diese Schwäche wird dann durch die Rhetorik des Multikulturalismus und Parolen, wie zum Beispiel „Migration als Chance“ und „Kulturelle Impulse“, in eine Potenz umgemünzt: Das ist Viagra für die überforderten Amtsinhaber, denen es gerade an Impulsen fehlt.

Es bedürfte eines Umdenkens, einer neuen, unideologischen Debatte, in der die möglichen Lösungen thematisiert werden könnten. Am dringlichsten braucht man den politischen Willen und die Überzeugungsarbeit aller Parteien. Sonja Margolina