Schweigen erinnern

Sexspiele und Sprachexperimente: Die Literaturwerkstatt in Pankow präsentiert Gegenwartsliteratur aus Spanien  ■ Von Cristina Nord

In „Amores patológicos“ („Pathologische Liebe“) bedient sich die spanische Autorin Nuria Barrios eines Kunstgriffes, durch den sie die Rezeption des Buches im Buch selbst schon vorwegnimmt. Am Ende des ersten, mit „Textos“ überschriebenen Teils von „Amores patológicos“ findet sich eine kurze Erzählung, in der einem etwa 60jährigen Psychiater ein Exemplar von Barrios' Buch in die Hände fällt. Aus Versehen, glaubt doch die Ehefrau, die ihm das Exemplar schenkte, ein seriöses wissenschaftliches Fachbuch gekauft zu haben.

Folgenreich ist die Lektüre sowohl für sie als auch für ihren Mann, der zugleich der Ich-Erzähler ist. Das monotone Sexualleben der beiden steht plötzlich auf dem Prüfstand; der Erzähler entwickelt immer neue Phantasien und sucht sie in die Tat umzusetzen, was zunächst seine Frau und bald auch ihn selbst überfordert.

An die Stelle einer freudigen éducation sexuelle, die die Akteure aus Routine und Einfallslosigkeit ausbrechen ließe, tritt schnell die Obsession. Der Psychiater sehnt sich nach sexuellen Begegnungen mit den Figuren des Buchs, zu denen er selbst zählt und die er doch nicht anders erreichen kann als durch exzessives Masturbieren über den Seiten. „Amores patológicos“ – ein klassisches Exemplar der Einhand-Literatur?

Nein, das natürlich nicht. Eher eine verschachtelte Inszenierung, in der der Text es genauso wünscht wie fürchtet, von seinen Lesern begehrt zu werden. Ein Spiel, das mit einer fast größenwahnsinnigen Vision von der Wirkungskraft der Literatur kokettiert, schreibt es dieser doch die Macht zu, sexuelle Passion zu entfachen. Onanie und Obsession als die einzig möglichen Formen der Rezeption: Wäre da nicht der Rückzug in die ironische Verschachtelung, Nuria Barrios hätte sich viel, vielleicht zuviel vorgenommen. Barrios ist eine der acht Autoren und Autorinnen, die in dieser Woche in der Pankower Literaturwerkstatt zu Gast sind, um dem Berliner Publikum Einblick in die spanische Gegenwartsliteratur zu verschaffen. Aus „Amores patológicos“, ihrer ersten literarischen Veröffentlichung, las die 36jährige am Mittwoch abend, dem zweiten Tag der Veranstaltungsreihe, die den Auftakt der über das ganze Jahr sich erstreckenden Lesereihe „Europa erzählt“ bildet. Neben Barrios auf dem Podium saß die 1962 in Barcelona geborene Cuca Canals, die Auszüge aus ihrem bereits ins deutsche übersetzten Roman „Die lange Berta“ vortrug.

Beide Autorinnen, so die Ankündigung, stünden für die Experimentierfreude der spanischen Literatur oder, wie es der Leiter der Literaturwerkstatt, Thomas Wohlfahrt, zusammenfaßte, für „gewagte Themen“ und „gewagte Formen“. Wobei das Thema Sexualität recht schnell den Blick für die literarische Form verstellte: Wer achtet bei so vielen Brüsten, Erektionen und Körpersekreten wie in Barrios' und Canals' Texten noch auf Sprachexperimente? Deutlich ruhiger ging es am Dienstag abend zu, als Rafael Chirbes und Gustavo Martin Garzo die Lesereihe eröffneten. Ihre Texte sind Erinnerungsübungen, ihr Sujet die Gegenwart der Vergangenheit. Wie der spanische Bürgerkrieg, wie das Franco-Regime im Mikrokosmos der Familien und Dorfgemeinschaften wirken, füllt ihre Arbeiten.

Der 49jährige Chirbes las aus seinem gerade auf deutsch erschienenen Roman „Die schöne Schrift“, in dem eine alt gewordene Frau ihr Leben Revue passieren läßt. Im Zentrum ihrer Rede steht die Mühsal, die der Alltag unter Franco mit sich brachte, war man erst einmal als Republikaner aktenkundig. Schauplatz ist ein kleines Dorf in der Nähe von Valencia, in dem selbst Verwandte zu Feinden werden, wenn es nur dem eigenen Fortkommen dient.

Garzo entwirft einen ähnlichen Handlungsort für seinen ebenfalls gerade auf deutsch erschienenen Roman „Der kleine Erbe“: ein Bergdorf in Kastilien, in dessen Nähe Franco-Truppen politische Gegner erschießen – wovon im Dorf natürlich nicht gesprochen wird. Auf die Frage, warum er noch heute, 24 Jahre nach Francos Tod, über den Bürgerkrieg schreibe, antwortet Garzo, daß er aus einer rechten Familie stamme, in der über Krieg und Faschismus nicht gesprochen worden sei. Seine Literatur unternehme demnach den Versuch, „eine Erinnerung an das Schweigen“ zu sein.

Zum Abschluß der Lesereihe wird es heute abend um eine hierzulande ungewöhnliche Verquickung gehen. Mit Manuel Vázquez Montalbán und Rosa Montero sind zwei Autoren eingeladen, die sich um die Literatur genauso wie um den Journalismus verdient machen. Vázquez Montalbán, hierzulande bekannt vor allem aufgrund seiner Krimis und der darin enthaltenen Kochrezepte, publiziert regelmäßig in El Pais und anderswo; Montero leitet die Redaktion von El Pais Semanal, der umfangreichen Wochenendbeilage zur Tageszeitung.

Die Koexistenz der beiden Schreibweisen bezeichnet die Autorin übrigens als Bigamie: Der Journalismus sei der Ehemann, die Literatur der Liebhaber.

„Nueva Narrativa Española“ mit Rosa Montero und Manuel Vázquez Montalbán: heute, 20 Uhr, Literaturwerkstatt Berlin, Majakowskiring 46/48, Pankow