Die Unverwässerlichen

Am Anfang vom Ende der alten Parteiendemokratie: Die Grünen waren ein Gegenmodell zu den Dachverbändlern des politischen Lebens. Sie sollten sich wieder auf die Relevanz des einzelnen konzentrieren  ■ Von Matthias Politycki

Erst verbieten sie die Formel 1, dann das Pinkeln im Stehen und schließlich das Furzen ohne Kat“ – so habe ich das an der Bar des „Frank & Frei“ erlauscht, einer durchschnittlichen Hamburger Eckkneipe, und zwar schon lange vor der Hessen-Wahl: Nicht erst seit gestern sind die Grünen zum Witz geworden. Spätestens seit Ende der 80er, da sich erst die weltpolitische Gesamtlage und dann alles änderte, konnten sie nur mehr diejenigen neu für sich gewinnen, die sich vor dem rapiden gesellschaftlichen Wandel in diverse Turnschuhnischen zurückzogen; was einmal eine durchaus avantgardistische Massenbewegung war, ist heute ein Sammelbecken für rückgewandte Loser. Selbst der ästhetische Sprung von Joschka Fischer in die maßgeschneiderten Probleme des Jahrhundertendes kann keinen darüber hinwegtäuschen, daß er eine zusammengekleckerte Schar an rigoristischen SelbstgeißlerInnen anführt, die – „Ja, ja! Nein, nein!“ rufend – in unserer daxistischen Zweidrittelgesellschaft allenfalls als HeiligInnen noch eine Chance haben könnten.

Nun leben wir in Zeiten, die mit sämtlichen Ideologien und den darin enthaltnen Utopien abgeräumt haben, in Zeiten, da es bereits als Intellektualitätsnachweis gilt, sich auf keine Meinung festzulegen, sondern mit seinen postmodernen „Widersprüchen“ zu kokettieren; in Zeiten also, deren freischwebende Ironie jeden Fundamentalismus zersetzt, auch einen grünen. Die einzig adäquate Haltung angesichts eines gesamtgesellschaftlich drohenden Zynismus wär's freilich, Ironie und Utopie zu verbinden, sprich, der beispielsweise grünen Weltanschauung eine zeitgemäße Außenhaut an Esprit und Charme zu verpassen, ihren alten Furor mit neuen spielerischen Elementen zu versetzen. So daß aus ihrer starren 70er- Jahre-Doktrin eine flexible Struktur an Kernideen entstünde, die an den Rändern stets aufnahmefähig wäre für alles, das ihr der Zeitgeist an neuen Widerständen entgegenstemmt – selbst für vorübergehende Inkohärenzen.

Auch Ideologien unterliegen nämlich dem Prozeß der Auslese; und gerade weil die kapitalistische Denkart inzwischen drauf & dran ist, als einzige Art zu überleben, bräuchten wir schleunigst ein paar qualitative Mutationen bei allen noch verbliebenen Gegenvisionen, um uns nicht im Hamsterrad eines hedonistischen Gegenwartsfetischismus totzulaufen. Konkret gesagt: Gerade weil sich jetzt auch die SPD zur Abwicklungsmaschinerie von Sachzwängen reduzieren will, bräuchten wir eine grüne Gegenpartei, die auf der Höhe ihrer Zeit und also dort stünde, wo sie auf nichtfundamentalistische Weise fundamental gegensteuern könnte.

Eine grüne Gegenpartei? Waren die Grünen denn jemals eine Partei? Oder vielmehr eine wilde Rasselbande, deren Kleinstkonsens – abgesehen von einer diffusökologischen Grundaufgeregtheit – darin bestand, dagegen zu sein? Gegen alles, was für sie die „Mitte“ in der alten Bundesrepublik repräsentierte, Staatsapparat-Bürger- Institutionen, bei gleichzeitiger Pauschaltoleranz gegenüber allem und jedem, das von den Rändern kam. Womit die Grünen des Jahres 1999, kaum daß sie aus der Rolle des Rundum-Oppositeurs heraus- und in eine staatstragende Rolle hineingewählt wurden, einem unaufhebbaren Widerspruch unterliegen und sich im Grunde auf besagten ökologischen Grundimpetus beschränken müßten. Was sie freilich nicht mehr können, ist er doch längst selbstverständlicher Teil von unser aller Mülltrennungsalltag geworden – und von sämtlichen anderen Parteiprogrammen: Eine grüne Regierungspartei ist entweder a priori handlungsunfähig oder eine (aufgeregtere) Variante dessen, was die andern sowieso schon waren oder sind – und also in beiden Fällen überflüssig.

Aber die Grünen, wie gesagt, sind ihrem Wesen nach ja gar keine Partei, und das könnte sich in nicht allzu ferner Zukunft wieder zu ihren Gunsten auswirken. Was geschah denn zwischen den 70ern und den 90ern, da sich die Grünen im wesentlichen darauf beschränkten, grün zu sein, was geschah denn da mit den andern, den „richtigen“ Parteien? Eine ganze Menge; in einer Serie an stets flacher ausfallenden Parteiprogrammen, Standortbestimmungen, Wahlplattformen versuchten sie fast ausnahmslos, ihre ursprünglichen Konturen zu verwischen, sich einander anzugleichen – inzwischen wollen sie alle, mit Ausnahme von CSU und PDS, von ihrer ehemaligen Identität (lies: von ihrer ehemals klar begrenzten Stammwählerschaft) nichts mehr wissen und drängeln in einer unisono beschworenen Neuen Mitte. Auch die Grünen? Auch die – jedenfalls soweit sie mit der letzten Bundestagswahl jäh in den 90ern erwacht sind und sich im Krawattenbinden üben: Auf Dauer kann man den Krawattenträger nämlich nicht spielen, auf Dauer wird man Krawattenträger.

Wenn sich freilich alle in der Mitte aneinanderkuscheln, wenn's nicht mehr für Visionen von rechts oder links zu kämpfen, sondern eine allgemeine Visionslosigkeit zu kaschieren gilt, dann fehlt dem öffentlichen Politspektakel weit mehr als nur der Pfeffer. Eine in der Mitte erfolgreiche Politik läßt sich nämlich – wie ein Fußballspiel – nur über die Flügel gestalten, nur von den Rändern her, wo sich die Grünen ja auch bis vor wenigen Monaten sehr erfolgreich etabliert hatten. Wollte man sie jetzt vor der Sozialdemokratisierung bewahren – „In Gefahr und Not bringt der Mittelweg den Tod“ –, man müßte ihnen dringend zuraten, sich wieder auf ihren angestammten Platz als Oppositionspartei, vielmehr als Oppositionshaufen zurückzuziehen: Lediglich dort, wo's noch Protest und Leidenschaft gibt, gibt's eine Zukunft, die den Namen verdient; die „strukturelle Regierungsunfähigkeit“, die man den Grünen zur Zeit überall bescheinigt, ehrt sie – bloß müßten sie ihre Not auch als ihre höchstspezielle Tugend begreifen.

Denn als Gouverneur einer amerikanischen Überseekolonie, und etwas anderes kann auch kein grüner oder sozialdemokratischer Minister in Deutschland sein, ist man von jeher mit der Verwaltung des Kompromisses beschäftigt: Im Mainstream der Weltpolitik verwandelt sich jedes noch so wild dahinsprudelnde Seitenflüßchen zum Teil des träge dahinflutenden Gesamtstroms. Nur einige wenige vermögen es, sich aufgrund von Aussehen, Rhetorik, Charisma oder was immer diesem allgemeinen Verwässerungsprozeß zu entziehen; im Grunde sind Parteien nichts weiter als politisch korrekt anmutende Hilfskonstrukte für jene großen Einzelpersonen, auf daß diese noch größer und mächtiger werden. Im Grunde sind Parteien nichts weiter als demokratiesimulierende Notlösungen: Sobald jene Unverwässerbaren – ob gewollt, ob ungewollt – ihren Kurs ändern, dreht die gesamte Partei bei (im Falle der neuen SPD), oder sie gerät ins Krängen und Schlingern (im Falle der Grünen, die eben nicht alle bereit sind, ihre gutmenschlichen Glaubwürdigkeitscodes gegen eine Handvoll Manschettenknöpfe einzutauschen).

Parteien als Notlösungen, als Mehrheitsbeschaffungsmaschinerien für Einzelpersonen – sitzt hier vielleicht die Wurzel der Politikverdrossenheit, die uns seit Jahren bescheinigt wird? Und sind wir also nicht etwa der Politik überdrüssig, sondern der Parteien, aller Parteien, weil es sie ideologisch ohnehin nicht mehr und ihre realpragmatischen Restbestände nur noch als ineinanderfließende Schemen gibt? Und bräuchten wir einfach nur ein paar neue Parteien, die – nach dem Vorbild Italiens – den ganzen Selbstverdauungsapparat des Zentrums von den Rändern her aufrollen würden: Freie Wählerschaften, Stattparteien, rosarote und, natürlich, grüne Panther, eine Partei der Kleinaktionäre und eine der Microsoftopfer und eine des...?

Nein, das Parteiensystem als Ganzes hat keine Zukunft mehr, weder ein personeller Verjüngungsprozeß kann hier dauerhaft helfen noch eine neue Partei, die innerhalb weniger Jahre vom System der Fraktionsdemokratie ausgezehrt und damit ebendort wäre, wo die alten Parteien schon heftig sind: im Auge des Hurrikans. Nein, wir leben in wirbelstürmischen Zeiten, am Ende jeglicher gewachsenen Verwurzelung, am Beginn einer hypertransparenten Unübersichtlichkeit und einer sehr prinzipiellen Vereinzelung – die relevanten Themen werden in zunehmendem Maße von relevanten einzelnen besetzt, die bei all dem einen gewissen Überblick behalten oder jedenfalls so tun, und deshalb täte's dringend not, diese einzelnen auch wieder stärker in staatspolitische Strukturen einzubinden: Um wirklich Bewegung in unsere Politik zu bringen, brauchen wir nicht nur ein paar versprengte „Quereinsteiger“, deren sich die SPD aus Mangel an eigenen Glanzlichtern versichert hat, sondern ein Wahlrecht, das uns erlaubt, (mit der Zweitstimme) Parteien oder Personen zu wählen – letztere nämlich als Einzelpersonen und nicht als Apparatschiks irgendeines obsoleten schwarzen, gelben, roten, grünen, grauen Dachverbands.

Mag sein, daß solch ein „optionales“ Persönlichkeitswahlrecht (dessen erste Vorstufe mit der Schröder-Wahl im übrigen bereits gezündet wurde) zunächst einmal zu einer allgemeinen inner- wie außerparlamentarischen Verwirrung führt, mag sein. Für einen wie mich freilich, dem's schon an der Uni – umkreist von gschaftlhuberischen Flugblattwedlern, Megaphontrötern, Solidaritätsbekundern, Demonstrationären, Dauerbetroffnen – eine Selbstverständlichkeit gewesen, nicht dazugehören zu wollen, nirgendwo dazugehören zu wollen, für unsre ganze Generation an Flugblattignorierern, Nichtdemonstrierern und notorischen Wechselwählern (und für den Rest der Unter-Fünfzigjährigen wohl auch) wäre's sicher erlösend, wenn wir von der Zwangsverpflichtung auf Parteien entbunden würden und versuchsweise mal eine kunterbunte Mischung an direktdemokratischen „Volksvertretern“ wählen dürften: Joschka Fischer als Kanzler, Gregor Gysi als Außenminister, Guido Westerwelle als Minister für Frauen und Gedöns, Robert Gernhardt als Bundespräsidenten – ob solchen Querverbindungen nicht eine ganz neue Schubkraft innenwohnen könnte?

Wobei wir endlich wieder bei einer Utopie wären, der Utopie nämlich, daß sich unser Demokratieverständnis auf diese Weise gegen den weitverbreiteten Wunsch nach einem neuen „starken Mann“ verteidigen ließe: durch eine Vielzahl an starken Einzelgängern, deren Wählbarkeit gerade darin läge, nicht vorab auf irgendwelche Programme und Doktrin festgelegt zu sein. Und hier wären wir auch wieder bei den Grünen, jedenfalls bei den Grünen, die sie vor ihrer Verkrustung zur Partei einmal waren und die sie nach dem Zerfall der alten parteidemokratischen Strukturen vielleicht auch wieder werden könnten: eine glaubwürdige Bewegung derer, die stark genug sind, für sich selbst zu stehen.