Die Angst vor Beratung

Nie war so viel Politikberatung wie heute. Selbst in Deutschland, wo Think Tanks weniger Bedeutung haben als in den USA. Zwar erweist sich so mancher Politiker immer noch als beratungsresistent. Doch wer bei Wahlen Erfolg haben will, kommt um modernes Politikmarketing nicht herum. Hintergründe  ■ von
Michael Rediske

Sorry, ich bin nur ein Professor im Elfenbeinturm“, soll der amerikanische Wirtschaftsprofessor und spätere Nobelpreisträger James Tobin einst John F. Kennedy geantwortet haben, als der ihn in sein Beratungsteam holen wollte. Kennedy überzeugte den Gelehrten mit einem unschlagbaren Konter: „Und ich bin nur ein Politiker im Elfenbeinturm.“ Heute würde dieser Dialog kaum mehr stattfinden, nicht einmal in Deutschland, wo die Politikberatung erst relativ spät, in den siebziger Jahren, Einzug in Ministerien, Staatskanzleien und Parteizentralen gehalten hat.

Nie war so viel Politikberatung wie heute, Grundsatzabteilungen und Planungsstäbe wuchern in den Ministerien, die Zahl der als „Denkfabriken“ operierenden Institute hat sich im letzten Vierteljahrhundert verdoppelt; immer öfter holen sich Parteien, Verbände und Regierungen externen Rat, um ihre Politik demoskopisch anzupassen und optimal zu verkaufen. Politikmarketing ist zur neuen Wachstumsbranche geworden. Wer es nicht betreibt – oder nicht gut genug –, der erleidet Schiffbruch, und seien seine Argumente noch so gut.

Politikmarketing – das ist nicht nur die fernsehgerechte Inszenierung eines Parteitags, sondern auch die Kunst, in einer konsenssüchtigen Gesellschaft umstrittene Ziele im Dialog mit der Öffentlichkeit durchzusetzen. Beispiel Atomausstieg. Als Jürgen Trittin zusammen mit einer kleinen Schar Getreuer die Spitze des Umweltministeriums übernahm, wollte er sich auf den fachlichen Rat seiner (Pro-)Atomabteilung aus verständlichen Gründen nicht allzusehr verlassen.

Den Grünen nahestehende Think Tanks, voran das Öko-Institut, hatten schließlich seit Jahren an Ausstiegsszenarien gearbeitet. Kanzler Schröder hatte zuvor gefordert, daß das Projekt nur ohne Entschädigungsleistungen an die Energiekonzerne vonstatten gehen darf. Kein Problem, auch dafür gibt es Lösungen, sagten Trittins Berater. Und trotzdem wurde seine Gesetzesnovelle im letzten Moment gekippt. Weil die Atomkonzerne Druck machten, sagt der Umweltminister. Weil Trittin auf die Fragenkataloge anderer Ministerien nicht eingegangen war und sie seinem Entwurf nur beigeheftet hatte, heißt es aus dem Kanzleramt.

Resumée: Inhaltlich mag Trittin mehr oder weniger gut beraten worden sein – man hat ihm offenkundig nicht beigebracht, die Machbarkeit seines Ausstiegsszenarios im Dialog mit anderen Politikinstanzen und in der Öffentlichkeit zu vermitteln. (Davon abgesehen, daß Trittins Rhetorik allzu negativ klang: Statt über neue ökologische Techniken zu reden und damit an die Bastler- und Ingenieurmentalität der Deutschen zu appellieren, propagierte er nur die Abschaffung einer als schädlich erkannten Großtechnologie.) Den Dialog mit der Öffentlichkeit jedenfalls beherrscht Gerhard Schröder weit besser, egal, was man von seinen inhaltlichen Volten und seinem Politikstil (“als wenn jeden Sonntag Wahlen wären“) hält.

Als die Friedrich-Ebert-Stiftung am vorigen Wochenende, gemeinsam mit dem Forschungsjournal Neue soziale Bewegungen, in Freudenberg bei Siegen eine Tagung über Politikberatung in Deutschland veranstaltete, hieß der unumstrittene Star Matthias Machnig. Drei Jahre lang hatte er die „Kampa“, die Wahlkampfzentrale der SPD, aufgebaut und so koordiniert, daß die Konkurrenz von Peter Hintze im Konrad-Adenauer- Haus plötzlich sehr alt aussah. Jetzt, nachdem er seinem Mentor Franz Müntefering als Staatssekretär ins Bundesverkehrsministerium gefolgt ist, kann er seine Erfolgsstory erzählen.

Ein Wahlkampfteam von 120 Leuten, flankiert durch einen Kranz von Beraterfirmen, mit Werbeagentur, Mediaagentur, Meinungsforschung, Eventmarketing. Alles eigentlich nichts Neues, sieht man von der geschickten Konzentration auf wenige Themen und Schlagworte – „Innovation und Gerechtigkeit“ –, einer bei der SPD bis dahin unbekannten Zentralisierung – Machnig: „Kein Geld für Hinterstubenveranstaltungen mit zwanzig Leuten“ – und der Erfindung der „Neuen Mitte“ ab.

Wirklich innovativ war, wie Machnig und Bundesgeschäftsführer Franz Müntefering mit ihrem Beraterteam den gesamten sozialdemokratischen Apparat, vom Parteipräsidium bis zum Erich-Ollenhauer-Haus, im SPD-Jargon immer noch „Baracke“ genannt, überlisteten.

Ein „überpolitisierter“ Apparat wie die Bundes-SPD, so hat Machnig gelernt, tendiert dazu, zu sehr „an die Kraft des Arguments zu glauben“, die Präsentation und Vermittlung desselben dagegen zu unterschätzen. Hätten wir, erzählt er, unser Konzept der Kampa erst einmal „partizipatorisch“ im SPD-Präsidium diskutiert, dann wären nach langen Diskussionen „dicke Drehbücher“ entstanden – aber keine schlagkräftige Wahlkampfzentrale. Sein Erfolgsrezept: Die Struktur stand bereits, als Müntefering das Geheimprojekt drei Jahre vor der Bundestagswahl dem Präsidium vorstellte. Die Parteispitze konnte nur noch ja sagen. Der Widerstand der von der Kampa marginalisierten SPD- Zentrale wurde schnell überwunden – sie hatte schließlich keine Alternative anzubieten, und die Wahlkampfzeit wurde knapp.

Auf zwei unterschiedlichen Wegen kann Politikberatung versuchen, ihre Empfehlungen durchzusetzen. Den einen nennt der Sozialwissenschaftler Gerd Mielke, der in der Mainzer Staatskanzlei arbeitet, die „Papierstrategie“, der andere funktioniert über den Einfluß von Personen. Gutachten dienen oftmals mehr der Legitimation denn dem Erkenntnisgewinn, sie haben, meint Mielke, durchschnittlich eher geringe Chancen, ernsthaft wahrgenommen und umgesetzt zu werden.

Politische Akteure beklagen, daß akademische Berater oft nicht in der Lage sind, ihre Ratschläge so realistisch zu gestalten, daß sie umsetzbar sind. Oft würden die Adressaten mit der Studie allein gelassen. Die Berater verstünden vielfach nicht, daß die Lebensrealität der Politik im Krisenmanagement bestehe. Wir verstehen: Kohärente Planung, die in der Politik einfach nur statisch umgesetzt werden müßte, gibt es nicht, gefragt ist ein Prozeß, bei dem Berater und Beratene im steten Dialog bleiben.

Die Kampa ist ein Beispiel für die zweite Beratungsstrategie, die der Durchsetzung mit Hilfe von Personen. Nur weil sie von Franz Müntefering, damals Chef des mitgliederstärksten SPD- Bezirks, persönlich vorgeschlagen wurde, konnte sie die traditionellen Parteistrukturen aushebeln. Doch nach der Bundestagswahl zeigte sich die Schwäche dieser Strategie: Müntefering ging in die rot-grüne Regierung, die Kampa wurde aufgelöst.

Die alte Parteizentrale blieb deshalb unreformiert, ja geriet sogar unter einem profillosen Bundesgeschäftsführer wie Ottmar Schreiner ins Abseits. Schröders bekanntes Desinteresse für die Partei und Lafontaines Doppelbelastung durch Parteivorsitz und Finanzministerium tun ein übriges.

So hat die Politikberatung der Kampa zwar die SPD ins Kanzleramt gebracht, aber deren Strukturen nach dem Weggang von Müntefering aus der Organisationsarbeit bislang nicht nachhaltig verändert. „Der persönliche Faktor ist unkalkulierbar“, analysiert Sozialwissenschaftler Mielke den Nachteil derjenigen Beratung, die sich nicht – oder nicht allein – über die Produktion intelligenter Gutachten, sondern den Einfluß von Personen durchsetzt.

Das Dilemma von Gutachtern und Denkfabriken, zwischen der Strategie einflußloser Gutachten und der prekären Durchsetzung durch einzelne Politiker zu wählen, scheint in gewisser Weise spezifisch deutsch. Zumindest klagen Wissenschaftler einhellig darüber, daß hierzulande die Mobilität von Akademikern zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Politik extrem gering ist. Während in Frankreich die Eliten ganz überwiegend denselben Kaderschmieden wie der „École nationale d'administration“ entstammen und in den angelsächsischen Ländern die Karrieremuster flexibel sind, funktioniert in Deutschland der „Transfer“ von Personal zwischen Beratung und Politik besonders schlecht.

Der Hamburger Politikwissenschaftler Martin Thunert, der an einer umfangreichen vergleichenden Studie über Denkfabriken arbeitet, führt diesen Umstand darauf zurück, daß in Deutschland Laufbahnen meist Einbahnstraßen sind: Wer in der Wissenschaft etwas werden will, muß sich dem langwierigen Initiationsritus der Habilitation unterziehen (Thunert tut dies gerade) und wird sich im allgemeinen hüten, diese Zeit noch durch sporadische Wechsel in Beratung oder Verwaltung zu verlängern. Ist der Wissenschaftler erst einmal Beamter, so wird es ihm nicht gerade leichtgemacht, auf diesen Status zu verzichten – ohne zugleich seine Rentenansprüche, für die er ja nichts einzahlen mußte, zu gefährden. Auch das System der Sabbaticals ist im Staatsapparat noch weitgehend unbekannt – was die Durchlässigkeit zwischen Wissenschaft und Politik nicht unbedingt fördert.

Gleichzeitig nehmen die Ansprüche an Politikberatung zu. Thunert hat bei seiner Befragung von 28 deutschen Denkfabriken festgestellt, daß die meisten von ihnen ihr Forschungsprofil und ihren wissenschaftlichen Ruf als ihre Stärken bezeichnen, bei der Vermarktung ihrer Ergebnisse und der Öffentlichkeitsarbeit dagegen Schwächen sehen. Dabei hat – worin sich alle Institute einig sind – der Beratungsbedarf seit Mitte der achtziger Jahre stark zugenommen. Ursachen sind, so Thunert, die wachsende Komplexität der Fragestellungen (Umwelt, die Transformation Osteuropas), aber auch die „abnehmende Qualität der Politiker“, die beraten werden wollen oder sollen.

Zwar ist der Anteil der Bundestagsabgeordneten, die einen Hochschulabschluß vorweisen können, seit den siebziger Jahren immer weiter angestiegen. Doch haben sie – wir ahnen es – immer weniger Zeit, sich in Probleme und Problemlösungen zu vertiefen, sind immer häufiger von den Medien gefordert, müssen schnell und improvisiert TV-kompatible Antworten auf alle erdenklichen Fragen absondern.

Schließlich soll an dieser Stelle ein uraltes Hindernis für Politikberatung nicht verschwiegen werden. Gerd Mielke nennt es die „Heldentheorie der Politik“. Sich zumindest nach außen beratungsresistent zu geben, gehört immer noch zum Habitus so manches erfolgreichen Politikers. Machnig, der Kampa-Chef, meint allerdings, auch dafür ein Gegenrezept gefunden zu haben: lange Strategiedebatten vermeiden, den Politikern ein „fertiges Produkt“ anbieten – und ihnen erst dann erzählen, daß sie längst Teil eines Beratungsprozesses gewesen sind.

Michael Rediske, 45, Diplomverwaltungswissenschaftler, ist seit zwölf Jahren taz-Redakteur und war die letzten drei Jahre deren Chefredakteur.

Die Tagung Politikberatung in Deutschland wird im Heft 3/99 des Forschungsjournals Neue Soziale Bewegungen (Westdeutscher Verlag) dokumentiert