„Die Welt sollte erfahren, daß Juden gekämpft haben“

Jüdischer Widerstand wird in der Regel mit den Aufständen der Ghettos verbunden. Dabei nahmen Partisanen den Kampf mit den Nazis auch in „arisierten“ Gebieten auf, etwa in Polen. Ihre Aktionen widerlegen das Klischee, die Juden hätten sich wie die Lämmer zur Schlachtbank führen lassen. Vier der jüdischen Widerstandskämpfer von Krakau traf  ■ Bernd
Siegler

Es ist sieben Uhr abends, der 22. Dezember 1942. Mitten in Krakau, der Hauptstadt des polnischen Gebiets, das die Nazis „Generalgouvernement“ nennen. Gegenüber vom Slowackiego- Theater sitzen deutsche Wehrmachtsoffiziere und Beamte der Besatzungsmacht im Café Cyganeria beisammen. Die Stimmung ist gut, so kurz vor Weihnachten, draußen hasten ein paar Soldaten vorbei auf der Suche nach Geschenken. Plötzlich werden Handgranaten aufs Café gefeuert. Etwa zwanzig Deutsche sterben. Zur gleichen Zeit fängt es an verschiedenen Stellen der Stadt an zu brennen, im Offiziersklub Zakopianka fallen Schüsse, am Denkmal des polnischen Nationalhelden Adam Mickiewicz liegen plötzlich Blumen, auf der Dembitzerbrücke wehen polnische Flaggen, und überall rufen Flugblätter zum Widerstand gegen die Nazis auf. Krakau in Aufruhr.

Der militante jüdische Widerstand gegen das NS-Regime hat zugeschlagen – mitten in der von Polizei, Militär und Geheimdiensten kontrollierten polnischen Metropole. Eine militärische Aktion, wie sie bis zu diesem Zeitpunkt im besetzten Polen noch niemand gewagt hat. „Im Herzen der Bestie angreifen“, lautet die einzigartige Losung der Juden. Kein Widerstand innerhalb der Ghettomauern, sondern im „arischen“ Teil der Stadt.

„Die Welt sollte erfahren, daß wir Juden gekämpft haben“, umschreiben 56 Jahre später Poldek Maimon, Chavka Folman, Salek Schein und Hela Rufeisen ihre Motivation. Sie sind in Krakau geboren, inzwischen 74 und 78 Jahre alt und leben in Israel. Das Quartett wandelt auf den Spuren seiner Vergangenheit. Wenn sie dabei über die Stahlbrücke mit den ausladenden Bögen spazieren, die Krakaus Zentrum mit dem Stadtteil Podgorze verbindet, unterscheidet sie nichts von den zahllosen Touristen, die durch die polnische Stadt schlendern. Damals, im März 1941, waren die vier mit ihren Familien und dem Nötigsten genau an dieser Stelle über die Weichsel ins Krakauer Ghetto gezogen. Dann, als sie keine Familien mehr hatten, gingen sie in den Widerstand.

Am 6. September 1939, als die deutschen Truppen in Krakau einmarschierten, lebten achtzigtausend Juden in der 260.000-Einwohner-Stadt. „Vom ersten Tag an begannen die Demütigungen und die Morde“, berichtet Maimon in Jiddisch. Krakau wurde zur Hauptstadt des „Generalgouvernements“, und „Generalgouverneur“ Hans Frank residierte auf der Krakauer Burg, dem Wawel. „Im Westen liegt Frankreich, im Osten wird Frank reich“, spotteten die Krakauer.

Frank wollte „sein“ Krakau zur „judenreinsten Stadt“ im Gouvernement machen. Zehntausende Juden wurden vertrieben, bevor im März 1941 das Ghetto errichtet wurde. „Es war nicht einfach, eines natürlichen Todes zu sterben“, sagte Ghetto-Apotheker Tadeusz Pankiewicz. Bei verschiedenen „Aussiedlungen“ und zuletzt im März 1943 bei der Auflösung des Ghettos wurden Tausende von Juden ermordet oder in die KZs deportiert.

Zu dieser Zeit hatten sich bereits in den Ghettos von Warschau und Lodz jüdische Widerstandsgruppen gebildet. Sie wollten die Deportationen erschweren und für den Fall der Ghettoauflösung einen Aufstand organisieren. Auf den polnischen Untergrund konnten sie nicht zählen. Der hielt sich an die Order der Exilregierung in London, die einen Partisanenwiderstand für falsch hielt. Judenräte warfen den Kämpfern vor, schuld an deutschen Repressalien zu sein. Trotzdem wurde sabotiert. „Die Morde an den Deutschen nehmen in furchtbarer Weise zu“, alarmierte Frank die Berliner Reichskanzlei.

Die „Aktion Reinhard“, die die Deutschen im „Generalgouvernement“ Anfang Juni 1942 mit äußerster Brutalität durchführten, war der Startschuß für den jüdischen Widerstand in Krakau. Gerade dort waren jedoch die Ausgangsbedingungen denkbar schlecht. In der Hauptstadt wimmelte es nur so von Sicherheitskräften, im Hinterland lagen riesige Ausbildungs- und Versorgungszentren von Wehrmacht und SS. Zudem bot das kleine Ghetto nur wenig Unterschlupfmöglichkeiten. Da auch ein Partisanenkampf in den Wäldern um die Stadt scheiterte, entschieden sich die Krakauer – im Gegensatz zu allen anderen jüdischen Widerstandsgruppen im besetzten Polen – für den Kampf außerhalb des Ghettos. Man trat zunächst nicht als jüdischer Untergrund auf, um Vergeltungsmaßnahmen der Deutschen gegen die Ghettobewohner zu vermeiden. Erst mit dem „Befehl Nr.21 des Oberkommandos“ vom Januar 1943 endete das Versteckspiel: „Es ist die Zeit gekommen, daß wir offen unser wahres Gesicht zeigen.“

Insbesondere zwei Gruppen waren in Krakau aktiv: die „Akiba“, eine zionistische Jugendorganisation, und die „Iskra“ (Der Funke), die zur kommunistischen Gwardia Ludowa, dem bewaffneten Arm der Kommunistischen Arbeiterpartei Polens, gehörte – insgesamt etwa 150 Partisanen. Heshiek Bauminger, ein überzeugter Kommunist, hatte die Iskra aufgebaut. Der damals dreißigjährige Adolf Liebeskind war Kommandant der Akiba. Unter den Anführern seiner Gruppe waren auch Gusta Draenger und ihr Mann Shimshon, die beide die Untergrundzeitung Hechaluz Halochem herausgaben. Mit seinen knapp fünfzehn Jahren war Poldek Maimon der jüngste Akiba-Kämpfer.

Die Aufgaben in den Gruppen waren streng verteilt. So war Shimshon Draenger für die Fälschungen von Ausweisen und Passagierscheinen zuständig. Die Qualität der Fälschungen entschied über Leben und Tod. Das wußte auch Salek Schein, der für die Iskra diese Aufgabe übernahm. Kopfschüttelnd, manchmal auch etwas neidisch, beobachteten die Mitglieder der Iskra die Akiba, die eine Art Kommune mitten im Ghetto aufrechterhielt.

In der Josefinska 13, einem Haus in Podgorze, diente eine kleine Wohnung als Besprechungsort und Ausgangspunkt für die Aktionen. Es wurde gesungen, gegessen, diskutiert. „Als wir auf engstem Raum zusammensaßen, vergaßen wir, was um uns herum geschah, das hat uns sehr viel Kraft gegeben“, erzählt Poldek Maimon, der auch seine erste Liebe in der Josefinska fand: Zesia. „Sie war sehr schön“, schwärmt er noch heute. „Jeder Moment, wo wir uns trafen, war für mich der glücklichste, aber wir hatten nicht viele Momente, in denen wir ungestört zusammensein konnten.“ Zesia war ebenfalls Kurierin. Sie wurde 1943 erschossen.

Das schwierigste Kapitel für den Krakauer Widerstand war die Waffenbeschaffung. Man überfiel nachts deutsche Soldaten, Kurierinnen schafften aus Warschau oder anderen Städten Pistolen und Sprengstoff herbei. Monatelang machten die damals fünfzehnjährige Chavka Folman und die drei Jahre ältere Hela Rufeisen diesen riskanten Job. „Ich hob meinen Kopf immer etwas an, dann hatten die anderen das Gefühl, daß meine Nase etwas kürzer ist“, sagt Hela Rufeisen. „Du mußtest lächeln, wenn dir zum Heulen zumute ist, und zu jedem freundlich sein, auch wenn er schreckliche Dinge über Juden sagte“, beschreibt Chavka Folman ihre Rolle. Und ständig die Angst, als Jüdin denunziert zu werden. Als Chavka Folman einmal zusammen mit einer Kurierin Handgranaten schmuggelte, versteckte sie diese in ihrer Unterhose. Auf dem Weg zur Straßenbahn scherzten sie, was sie wohl machen würden, wenn ihnen ein Gentleman einen Sitzplatz anböte. „Wir lachten und lachten. Das nahm uns die Angst ein wenig“, erzählt sie, „aber es gab keinen Gentleman.“

Seit August 1942 waren Überfälle auf Gestapo- und SS-Männer und Sabotageakte gegen Bahnlinien an der Tagesordnung. Nach der „Aussiedlung“ am 28. Oktober 1942, bei der rund siebentausend Krakauer Juden in die KZs gebracht wurden, erhielten die beiden Gruppen Zulauf. Gusta Draenger notierte in ihr Tagebuch, das sie im Frauengefängnis auf Toilettenpapier schrieb: „Wie schmerzhaft ist es mitanzusehen, wie Tausende sich wie die Schafe zur Schlachtbank führen lassen... Wir werden unseren Kopf nicht freiwillig unter das Messer legen.“ Salek Schein sagt heute: „Was hatte ich noch zu verlieren, ich war von da an allein.“ Für Chavka Folman, die sich bis heute weigert, Deutsch zu sprechen, war es der Mut der Verzweiflung: „Ich hatte mit allem abgeschlossen und ich wollte Rache.“ Das Warum ihres Kampfes beantwortet Hela Rufeisen mit „Für meine Mutter, für meinen Vater, für meine Geschwister“.

Akiba und Iskra gingen 1942 zusammen in die Offensive – am 22. Dezember. „Unser Hauptziel war es, die polnische Untergrundbewegung dazu zu bewegen, endlich etwas zu machen“, betont Poldek Maimon, der bei der Cyganeria-Aktion der Verbindungsmann zu den Flugblattverteilern war. Hela Rufeisen hatte den Sprengstoff organisiert. Am Tag der Aktion trafen unangemeldet aus Warschau Chavka Folman und Itzak Zuckerman, der Führer des dortigen Widerstands, in Krakau ein. Sie wollten noch einmal grundsätzlich über die Strategie reden. „Wir sollten als Juden mit den Juden innerhalb des Ghettos kämpfen, bei einem Widerstand außerhalb des Ghettos glaubt doch jeder, die Polen hätten das gemacht“, gibt Chavka Folman Zuckermans Position wieder. Doch die Krakauer hatten keine Zeit zum Diskutieren.

Pünktlich um neunzehn Uhr begann die Aktion. Ein voller Erfolg. Die Gwardia Ludowa war beeindruckt. Ihr Krakauer Kommandant, Jozef Zions, schrieb kurz nach dem Krieg: „Diese Aktion hat einen immensen Eindruck hinterlassen. Der einzige Schönheitsfehler ist, daß sie von Juden durchgeführt worden war.“

Die Aktion war zugleich der Anfang vom Ende des jüdischen Widerstands in Krakau. Nahezu alle führenden Aktivisten der Akiba wurden getötet oder verhaftet und deportiert. Die Gruppe um Bauminger kämpfte weiter, bis im Oktober 1943 deren letzte Aktivisten verhaftet wurden. Während Hela Rufeisen nach Warschau entkam, wurde Chavka Folman gleich am Abend der Aktion festgenommen. Sie gab sich als Polin aus und kam als „Polin, die jüdischen Banditen half“, so das Gestapo- Protokoll, nach Auschwitz. Poldek Maimon und Salek Schein wurden Anfang 1943 verraten und im Gefängnis Montelupich gefoltert.

Heute, nach 56 Jahren, wieder im Hof des Gefängnisses zu stehen, das noch genauso aussieht wie damals, erträgt Salek Schein kaum. „Da, genau durch diese Tür, sind wir rein und dann runter in den Keller. Ich kam von der Gestapo und wünschte mir nur noch den Tod.“ Schläge, Zählappelle, Verhöre, Scheinerschießungen. „Es war die reine Verzweiflung. Von der Gestapo kommt man nicht zurück, niemals. Das einzige ist, man kommt nach Auschwitz. Dort mußte man dann jeden Tag Glück haben.“ Dieses Glück hatten alle vier. Salek Schein und Poldek Maimon überleben Auschwitz, Hela Rufeisen Bergen-Belsen und Chavka Folman Ravensbrück und Auschwitz. „Mein Leben zuvor gab mir Kraft, hart zu bleiben“, sagt Chavka Folman. 1948 begründete sie in Akko im Norden Israels den „Kibbuz der Ghettokämpfer“ mit. Dort ist sie heute noch aktiv.

In Krakau, wo früher das Café Cyganeria war, hing bis vor wenigen Jahren noch eine Tafel, die den Aufruhr von 1942 als einen polnischen würdigt. Inzwischen heißt es, „auch Juden“ hätten teilgenommen. Die vier Widerständler sind sich sicher, daß es lange dauern wird, „bis dort die Wahrheit steht, nämlich daß dies eine rein jüdische Aktion war“.

Bernd Siegler, 41, schreibt für die taz seit 1981. Von ihm, Jochen Kast und Peter Zinke erscheint demnächst: Das Tagebuch der Partisanin Justyna. Jüdischer Widerstand in Krakau, Elefanten Press, Berlin, 320 S., 39,90 Mark