Kuba sagt dem Verbrechen den Kampf an

Die Karibikinsel gilt im Vergleich zu ihren Nachbarländern als sicheres Reiseland. Damit das so bleibt, setzt Präsident Fidel Castro auf Abschreckung. Hohe Haftstrafen sollen Diebe, Zuhälter und Gewaltverbrecher vertreiben  ■ Aus Havanna Knut Henkel

An jeder Kreuzung, an jeder Bushaltestelle in der Altstadt von Havanna sind sie präsent: die freundlich, aber bestimmt auftretenden Herren und Damen der brigada especializada, der Spezialeinheiten der Polizei. In der Calle Obispo, einer heruntergekommenen Einkaufsmeile, wo neue Devisengeschäfte angesiedelt werden, wird besonders streng darauf geachtet, daß sich ja keine zwielichtigen Kubaner unter die Touristenscharen mogeln, die die pittoreske Altstadt Havannas erkunden.

Aufmerksam verfolgen die Polizisten in den neuen Nappalederjacken das Treiben, verständigen sich über Funk mit dem Kollegen an der nächsten Ecke und schreiten zur Tat – Paßkontrolle. Jeden kann es treffen, doch vornehmlich sind es Jugendliche, die ihre Papiere vorzeigen müssen.

Ricardo, der 27jährige athletisch gebaute Mann, zückt seinen Paß und hat Glück, daß er nicht mit auf die Wache muß, denn er ist derzeit arbeitslos. Arbeitslose junge Leute, die auch in keinem staatlichen Betrieb untergekommen sind, sind der Polizei äußerst suspekt. „Wenn man keinen Job hat, wird man schnell verdächtigt, daß man sein Geld nicht ehrlich verdient, Touristen belästigt oder Schlimmeres“, schildert Ricardo seine Erfahrungen. „Das Problem ist, daß die kubanische Polizei alles andere als gut ist. Die Polizisten haben es nicht drauf, zwischen harmlosen und kriminellen Jugendlichen zu unterscheiden, denn die meisten von ihnen kommen aus der Provinz und kennen die Verhältnisse in Havanna nicht.“

Ricardo muß es wissen, denn vor einigen Jahren trug er noch selbst das hellblaue Uniformhemd der Revolutionären Nationalpolizei Kubas. Da der Job zu schlecht bezahlt war und keine Perspektiven bot, warf Ricardo nach knapp zwei Jahren das Handtuch.

„Streifenpolizist war früher ein angesehener Beruf“, erinnert sich Carmen, eine 75jährige Rentnerin, die sich einige Dollars mit privater Zimmervermietung hinzuverdient. „Da gab es noch Polizisten, die sich in der Nachbarschaft auskannten, hier lebten und die schwarzen Schafe kannten. Das ist lange vorbei“, stöhnt die rüstige Frau. Seit einem Einbruch kurz vor Weihnachten hat sie ihr Vertrauen in die Ordnungsmacht vollends verloren. Zwar kamen die Ordnungshüter, nahmen die Anzeige und die Fingerabdrücke der Einbrecher auf. Von allein hätten sie sich aber nie wieder bei ihr gemeldet, glaubt die quirlige Frau. „Zwei Wochen brauchten sie allein, um die Ergebnisse aus dem Labor zu bekommen. Genug Zeit für die Diebe alles zu verkaufen“, ereifert sie sich.

„Wenn man der Polizei keine Erfolgsprämie in Aussicht stellt oder niemand bei einem Einbruch oder Überfall verletzt wird, dann herrscht kein großes Ermittlungsinteresse“, ist sich Manuel, ein 39jähriger Taxifahrer, sicher. „Es wird dringend Zeit, daß etwas passiert. Die Rede von Fidel zum 40. Gründungstag der Polizei hat bereits etwas bewirkt“, meint der waschechte Habanero.

Castro hatte am 5. Januar im Theater Carlos Marx vor 5.000 Polizisten schonungslos Bilanz gezogen und zur Schlacht gegen das Verbrechen geblasen. Mit einer rigorosen Verschärfung der Haftstrafen hofft der Revolutionsführer der sprunghaft angestiegenen Kriminalität in Havanna Herr zu werden. Gleichzeitig will er härter als bisher gegen Dissidenten und unbequeme Journalisten vorgehen. Ihnen drohen in Zukunft bis zu zwanzig Jahren Haft, wenn ihre Aktvitäten als staatsschädigend betrachtet werden. Mit bis zu 15 Jahren Haft werden diejenigen bestraft, die den USA Informationen geben, die dazu führen können, daß die Sanktionen gegen Kuba verstärkt werden. Das US-Außenministerium hat diesen Teil der Strafrechtsreform kritisiert.

Nicht weniger als 80 Prozent der Straftaten werden dem 72jährigen Staatsoberhaupt zufolge in der Hauptstadt des Landes verübt. Doch es sind nicht allein die steigenden Verbrechenszahlen, die Castro auf den Plan riefen, sondern auch der steigende Organisationsgrad der kubanischen Unterwelt. Banden, die gezielt ganze Häuser in den Vororten Havannas, unter anderem im Botschaftsviertel Miramar, ausräumen, hatten bereits 1997 für Schlagzeilen gesorgt. Die Situation hat sich jedoch kontinuierlich verschärft. Gewaltanwendung, jahrelang ein Fremdwort in Kuba, gehört nun zum Alltag. Bewaffnete Überfälle auf Privatwohnungen, Überfälle auf Touristen, Drogenhandel und organisierter Frauenhandel haben die Öffentlichkeit aufgeschreckt und den Revolutionsführer auf den Plan gerufen.

Für Aleida, eine bekannte Schauspielerin, die in der Nähe des Platzes der Revolution lebt, ist es höchste Zeit, daß die Regierung reagiert: „In meiner Nachbarschaft wurde vor kurzem eine Frau wegen ihres Videorecorders ermordet. Erstochen am frühen Abend wegen eines Videorecorders“, erzählt sie noch immer fassungslos. Seitdem hat sie ihre Wohnungstür mit einem soliden Stahlgitter versehen, das auch am Tage verschlossen ist. Die 75jährige hat Angst. Auch die neuen Polizeibrigaden, die in den Brennpunkten um die bekannten Tourismuseinrichtungen zum Einsatz kommen, beruhigen sie nicht.

„In unserem Viertel gibt es keine Hotels, und Polizisten sind selten hier“, sagt sie. Deshalb patrouillieren mittlerweile nachts einige Männer mit Hunden durch die Straßen. Nelson ist einer von ihnen. Ein Mal in der Woche opfert der 38jährige seinen Schlaf, um den Rest der Woche ruhig schlafen zu können. „Seitdem wir unterwegs sind, ist es hier etwas ruhiger geworden“, sagt der kleine stämmige Mann nicht ohne Stolz in der Stimme. Daß es so weit kommen würde, hätte sich Nelson noch vor einigen Jahren nicht träumen lassen: „Diese Gewaltbereitschaft ist etwas vollkommen Neues, die hat es früher nie gegeben“, erinnert er sich.

Jüngstes Beispiel dafür ist ein Überfall auf einen Geldtransport des staatlichen Sicherheitsdienstes SEPSA. Wie das Regierungsorgan „Granma“ erst Anfang Februar groß aufgemacht berichtete, ereignete sich der bewaffnete Überfall, bei dem mehrere Personen verletzt wurden, bereits am 21. Dezember letzten Jahres im Stadtteil Guanabacoa. Abgesehen hatten es die äußerst brutal vorgehenden Räuber auf die Einnahmen eines Supermarktes, die von den Sicherheitsbeamten turnusgemäß abgeholt wurden. Als die beiden Geldboten den Supermarkt verließen, schlugen die mit zwei Revolvern bewaffneten Räuber zu. Sie eröffneten das Feuer auf die beiden total überraschten SEPSA-Angestellten und entrissen einem von ihnen, der von einer Kugel an der Schulter getroffen wurde, die Tasche mit den Einnahmen von 6.077 US- Dollar des Supermarktes.

Bei dem Schußwechsel wurde nicht nur einer der Geldboten verletzt, sondern auch zwei unbeteiligte Passanten und eines der fünf direkt am Überfall beteiligten Bandenmitglieder. Diese Schußverletzung führte die Polizei schließlich auf die Spur der Bande, deren Mitglieder am 5. Januar in Havanna und in verschiedenen Provinzstädten festgenommen wurden.

Seit diesem ersten Überfall auf einen Geldtransporter in Kuba herrscht Alarmstufe eins bei den staatlichen Sicherheitseinrichtungen. Geldtransporte werden mittlerweile mit großem Aufwand durchgeführt: Vor dem Hotel Plaza am Parque Central wartet ein gepanzertes Spezialfahrzeug auf die Einnahmen des legendären Hotels. Auf der Straße mustern Beamte mit der Pumpgun in der Hand aufmerksam jedes vorbeifahrende Fahrzeug. Barsch werden Passanten aufgefordert, die Straßenseite zu wechseln. Die Spannung in der Luft ist beinahe greifbar.

So kann es nicht weitergehen, ist von den Menschen auf Havannas Straßen immer wieder zu hören. Gerade die älteren Habaneros fühlen sich nicht mehr sicher in ihrer Stadt. „Es war überfällig, daß Fidel die Dinge beim Namen genannt hat“, ist sich Carmen sicher. „Und die hohen Strafen, die er für einige Verbrechen gefordert hat, werden hoffentlich einiges bewirken“, sagt sie. Differenzierter beurteilt Manuel, der Taxifahrer, die Rede des Revolutionsführers. „Ich finde es in Ordnung, wenn für Raubüberfälle und schweren Einbruch Strafen von 20 Jahren verhängt werden. Aber eine andere Sache sind die Haftstrafen von 20 Jahren für organisierte Zuhälterei“, meint er. „Organisierte Zuhälterei, so wie in Europa, wo Zuhälter sechs und mehr Frauen kontrollieren, gibt es hier doch kaum. Da muß man unterscheiden“, fordert er.

Ob die neu formierten Polizeibrigaden, die in den Brennpunkten wie in der Altstadt und in Centro Habana jetzt patrouillieren, zu angemessenen Reaktionen in der Lage sind, bezweifelt er. Allerdings hat es immerhin bereits einen beträchtlichen Rückgang der Straftaten in diesen Bezirken gegeben. 35 Prozent weniger sind es nach offiziellen Angaben. Nun soll auch in die Ausbildung und die Versorgung der Polizei investiert werden. Die Löhne sind bereits erhöht worden, und in den Straßen Havannas patrouillieren die Beamten in nagelneuen Peugeot- Streifenwagen.

Ruhig ist es auch am Malecon geworden, an der Uferpromenade Havannas. Wo allabendlich die jineteras, die Prostituierten, auf zahlungskräftige Touristen warteten, spielt sich nicht mehr viel ab. In den letzten Wochen wurden 6.714 Prostituierte registriert und verwarnt. Viele von ihnen wurden in ihre Heimatorte zurückgeschickt, wo Resozialisierungsmaßnahmen auf sie warten. Ihnen drohen im Gegensatz zu den Zuhältern keine Strafen, was für Jorge, einen Universitätsprofessor aus Havanna, ein positiver Ansatz ist. „Soziale Arbeit hat es in den letzten Jahren viel zuwenig gegeben, und dies ist ein Schritt in die richtige Richtung, denke ich.“ Für ihn muß allerdings noch viel mehr passieren, denn die Grundursache der steigenden Kriminaltität ist seiner Meinung nach die Perspektivlosigkeit, die sich unter vielen Jugendlichen breitgemacht hat. Die Stimmung unter den Jugendlichen macht auch Ernesto, dem Sekretär des kommunistischen Jugendverbandes (UJC) in einem Forschungsbetrieb, Sorgen. „Wir haben all diese Phänomene auf unserem Kongreß im Dezember diskutiert und analysiert. Jetzt ist es an der Zeit, neue Konzepte zu entwickeln, um gegen all die Phänomene, mit denen unsere Gesellschaft konfrontiert ist, anzugehen“, sagt der 31jährige.

Für ihn sind die hohen Haftstrafen, die am Dienstag vom kubanischen Parlament offiziell verabschiedet wurden, nur ein erster Schritt, um die periodo especial, die Phase der verschärften wirtschaftlichen Krise, zu überwinden.