Mutige Standpunkte statt Gejammer

■ Die doppelte Staatsbürgerschaft berührt die gebrochene Identität vieler Deutscher. Eine echte Reformpolitik muß dies ernst nehmen

„Für jedes menschliche Problem gibt es eine einfache Lösung“, so der US-Publizist Henry Lewis Mencken – und die sei „einleuchtend, plausibel und falsch“. Nach der Hessenwahl war man mit Analysen bei Rot-Grün rasch fertig: Grüne Landesskandale und die von der CDU geschürte Fremdenfeindlichkeit seien für das Debakel verantwortlich. Vor allem grüne Politiker machten die Wähler für die gescheiterte Akzeptanz der doppelten Staatsangehörigkeit verantwortlich. In tumber Einfalt hereingefallen auf die Propagandamaschine der CDU-Unterschriften- Kampagne, wählten die Hessen demnach nicht etwa eine Landesregierung, sondern ein Integrationsmodell für Ausländer ab.

Feindbilder, Fremdenängste und Identitätsverunsicherung sind allgemeine, keineswegs nur ein deutsches Phänomen. Aber andere Nationen können sich leichter mit ihrer Geschichte identifizieren. Wo Franzosen stolz auf ihre „Grande Nation“ verweisen oder die Résistance feiern, blieben den Deutschen bis vor kurzem lediglich D-Mark und Wirtschaftswunder. Anläßlich der Euro-Debatte meldeten sich daher ähnlich irrationale Befürchtungen wie jetzt beim Staatsbürgerschaftsrecht. Doch während die alte Regierung beim Euro auf Aufklärung setzte, fand die Staatsbürgerschaftsdebatte lediglich im kleinen Kreis statt.

Fremdenängste sind ebenso alt wie Neugier auf Neues. Entscheidend ist, welche Tendenz gefördert wird. Das wehleidige Lamento über die CDU-Kampagne lenkt von der Frage ab, was die Bonner Koalition und ihre hessischen Kollegen eigentlich unternommen haben, um dem Bürger den Sinn des Doppelpasses zu vermitteln. Die Antwort heißt: Nichts, denn die Kampagne wurde der CDU überlassen, begleitet lediglich von moralischen Anwürfen. So bestimmte die CDU-Unterschriften-APO die Debatte und gewann die Meinungsführerschaft.

Will man tatsächlich eine integrative Ausländerpolitik, muß man die verbreiteten Ängste ernst nehmen, statt sie mit der moralischen Keule des latenten Rechtsradikalismus erledigen zu wollen. Der Aufbruch in das neue Jahrtausend, Europa, Euro und die Herausforderung einer multikulturellen Zukunft wecken ängstliche Rückgriffe auf sogenannte deutsche Kultur und Brauchtümer. Das müssen nicht nur Bierseidel, rheinischer Karneval und Krabbenpulen sein. Die Sorge, sich auch sprachlich in einer multikuturellen Gesellschaft nicht mehr zurechtfinden zu können und sich der Vielfalt nicht gewachsen zu fühlen, trifft den einen früher, den anderen eventuell etwas später. An dieser Linie verläuft mitnichten die Grenze zwischen Gut und Böse, zwischen besseren und schlechteren Bürgern. Identitätsängste muß man ernst nehmen. Setzt man ihnen eine luftige Debatte über die Republik entgegen, verschärft man die Nöte, weil völlig unklar bleibt, was eigentlich gemeint ist. Rückwärtsgewandte Identitätsversicherungen verstärken sich, wenn andere, zukunftsorientierte, neue Identifikationsangebote fehlen oder vage bleiben. Was wir benötigen, sind konkrete Entwürfe und ihre Kommunikation.

Allerdings ist es kein Zufall, daß diese Regierung gerade an deutschen Identitätsnöten zu straucheln beginnt: „Auto-Mann“ Schröder verkörpert treffend die Identitätsnöte seiner Partei, die längst keine klassische Arbeitnehmerpartei mehr ist, doch noch längst keine neue linke Identität gefunden hat. Und die Grünen sind längst keine Partei der „Umweltbewegung“ mehr, ohne bereits eine sozialökologische Identität gefunden zu haben. Mit grimmiger Ironie zeigen Kanzler und Koalition ungewollte Bürgernähe: Das hektische Dilettieren ist Ausdruck eigener Konzeptionslosigkeit.

Klassische grüne Themen wie Umweltschutz liefern keine Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft, wenn sie nicht mit umfassenden sozialen und ökonomischen Konzepten verknüpft werden. Permanenter Koalitionskrach ist zwangsläufig Folge ungeklärter Zukunftsentwürfe.

Zum Vergleich: Als 1969 die neugewählte sozialliberale Koalition eine völlig andere Ostpolitik einführte, gab es eine Zerreißprobe in der deutschen Gesellschaft. Doch im Unterschied zur jetzigen Regierung setzte die damalige Koalition auf Dialog und die Kommunikation neuer Konzepte – und riskierte zugleich den Dissens. Harmonie und Konsens waren nicht die Mittel, mit denen Willy Brandt und Walter Scheel ihrer Politik zum Durchbruch verhalfen. Es waren überzeugende Konzepte und ihre Vermittlung. Auch damals ging es um deutsche Identität: Die „Aufgabe“ deutschen Bodens und der „Verrat“ von Vertriebenen und blutstämmig Deutschen erinnern fatal an die jetzige Diskussion um das Blutrecht gegenüber dem Staatsbürgerschaftsrecht. Die damalige Regierung gewann die Zerreißprobe, weil sie auf die Identitätsverlustängste der Deutschen einging, ohne ihnen nachzugeben. Das gelang ihr, weil sie einen neuen Politikentwurf verkörperte: eine neue Außenpolitik und eine breite Demokratisierung der ganzen Gesellschaft.

Wer die seltene Chance zur Politikgestaltung in Händen hält, verzettelt sich nur dann in persönliche Animositäten, wenn das Persönliche den fehlenden Politikentwurf ersetzt. Brandt und Scheel mochten sich trotz aller politischen Differenzen. Schröder und Trittin glauben, sich nicht zu mögen, weil sie von der historischen Chance überfordert sind. Denn tatsächlich geht es heute nicht nur um sogenannte Minderheitenprobleme, wie Jürgen Trittin nun plötzlich auch glaubt. Es geht um die Vermittlung neuer, umfassender Konzepte, die alte Sicherheitsbedürfnisse verunsichern und nur dann den Aufbruch zu neuen Ufern ermöglichen, wenn Mehrheiten erkennen, wie sie mit den Nöten von Minderheiten untrennbar verbunden sind.

Die dringend erforderliche neue Ausländer- und Einwanderungspolitik, die doppelte Staatsbürgerschaft, Atomausstieg, Öko-steuer und Rentenreform erfordern daher eine breite Debatte in der Gesellschaft. Dazu muß diese Regierung mit Vorschlägen aufwarten, von denen sie selbst überzeugt ist. Ein Politikwechsel benötigt eine mutige Vertretung der Standpunkte seiner Repräsentanten. Voraussetzung ist allerdings, daß man selbst von dem überzeugt ist, was man vorschlägt. Versäumt diese Regierung weiter, die alte philosophische Frage „Wie wollen wir leben?“ aufzuwerfen, wird sie – getrieben von Meinungsumfragen, Wahlergebnissen und Konsenssuche – am Ende nichts bewegen außer sich selbst. Jeweils am Wahlabend. Micha Hilgers