Berlinale-Anthropologie
: Jean Seberg

■ Tiefe Erschütterung, drinnen wie draußen

Obacht, dies ist nun wirklich Anthropologie! Die Mechanismen, nach denen du Zugang erhältst, die also entscheiden, ob du drinnen oder draußen bist.

Drinnen bin ich zunächst einfach, weil ich „akkreditiert“ bin, ein weißes Plastikkärtchen mit Paßfoto und Name und dem Berlinale-Logo trage. Daß es 50 Mark Bearbeitungsgebühr kostet: okay.

Dies Plastikkärtchen funktioniert aber keineswegs als Universalschlüssel, damit du jederzeit überall drin sein kannst. An dem Tresen im Interconti, wo es dir ausgehändigt wird, erhältst du zugleich ein leuchtend blaues Blatt in DIN A5. Hier ist genau aufgeführt, wozu du mit deinem Plastikkärtchen freien Zugang hast, zu den Wettbewerbsfilmen im Zoo-Palast beispielsweise – aber nur vor 17 Uhr. Auch zu den Forum-Filmen hast du freien Zugang, beispielsweise im Delphi – aber nur vor 18.30 Uhr. Sowie, um die Dreizahl vollzumachen, zu den Panorama-Filmen, beispielsweise im Atelier am Zoo – aber nur nach 18 Uhr.

Das ist noch nicht alles; „this is Germany“, sagt Leroi und meint damit, daß hier gern und gründlich organisiert wird. So kannst du mit deinem Plastikkärtchen bei zwei „Ticket-Offices“ vorstellig werden, die dir für andere Termine Freikarten verschaffen, sofern das begrenzte Kontingent noch nicht ausgeschöpft ist.

In einem dieser Ticket-Offices wurde ich vorstellig, weil ich, mit dem Bus vor dem Royal Palast eintreffend, eben noch feststellte, daß mich meine Kalkulationen irregeführt hatten. Wollte ich um 15 Uhr „Urban Feel“ sehen, bräuchte ich eine Eintrittskarte, das Presse-Plastikkärtchen reicht nicht aus.

„Urban Feel“, gab mir das Herrchen mit der gepiercten Augenbraue Bescheid, läuft gar nicht um 15 Uhr im Royal Palast, ein Mißverständnis oder Druckfehler. – Nun gut, und wie steht's um „Rien sur Robert“, 15.30 Uhr im Atelier am Zoo? – Ausverkauft! beschied mir das Herrchen freundlich, eine Auskunft, der komplizierte technische Prozesse voraufgingen. Der Streifencode auf dem Pressekärtchen wird mit dem entsprechenden haarfönartigen Gerät eingelesen, dann der Filmtitel, der über einen eigenen Code verfügt, wie er von einem ausliegenden Blatt abgelesen werden kann, das für jeden Tag die allfälligen Filme aufführt. Eine zusätzliche Komplikation entsteht daraus, daß auf diesen Blättern – für jeden Tag der Berlinale gibt's eine andere Farbe – manche der Filme mit Filzstift oder Kuli durchkreuzt sind. „Keineswegs!“ erklärte das Herrchen, bedeutete das „Ausverkauft“! Sondern nur, daß das Blatt von anderen Kollegen markiert wurde mit ihren Wünschen. Dann setzte er seine Technologie ins Werk: „Sorry! Ausverkauft!“ – Ja, Sie haben ganz recht, das ist wirklich kompliziert, nicht nur zu lesen, sondern auch zu erleben.

Mit einem Seitenblick hatte ich erfaßt, daß um 15 Uhr im Astor „Saint Joan“ zu sehen war, innerhalb der Otto-Preminger-Retrospektive. Ich beeilte mich, den Ku'damm hinaufzukommen; die ehemalige Nachbarin, aus Mali gebürtig, konnte ich nur ganz flüchtig begrüßen. Im Eilen verwandle ich mich. Im Astor würde ich einfach eine Eintrittskarte kaufen, was die Verhältnisse von Drinnen und Draußen revolutioniert: Keine komplizierte Technologie, die dich dann doch nach draußen verweist, einfach das Portemonnaie zücken.

Ja, es gab noch Karten, ja, ich komme noch rein, obwohl es nach 15 Uhr ist und – „this is Germany“ – überall Zettel kleben, daß nach Beginn der Vorstellung...

„Saint Joan“ (1957) ist ein schlechter Film. „Plenty of talent“, schreibt der heilige Halliwell, „but neither wit nor style“. George Bernard Shaws Dialoge sind teilweise Screwball-Comedy, aber das Schlußbild, wie Jean Seberg Gott fragt, wann endlich die Welt reif sei für ihre Heiligen – nun ja.

Gleichwohl, ich kenne keinen männlichen Menschen meiner Generation, der damals nicht seine erste große Liebe mit Jean Seberg erlebt hätte, fragen Sie Kardinal Scheel. Der Kurzhaarschnitt! Hier ging der erotische Zauber von Ingrid Bergmann direkt auf sie über, „To Whom the Bell Tolls“ (1943). Nicht nur das süße Mädchen mit dem zarten Hals, auf dem die Äderchen hervortreten, wenn sie sich enragiert. Sie ist ein richtiger Kumpel. Eigentlich hätte die Klasse 12a geschlossen das Consilium der Alten Säcke stürmen müssen, das sie zum Scheiterhaufen verurteilt, weil sie sich, schon antiautoritär, statt der Kirche nur ihrem eigenen Gewissen unterwirft.

Unsterblich macht Jean Seberg freilich „Außer Atem“ von Jean-Luc Godard (1960). Hier ist sie lebensgefährlich als Mädchen und Kumpel – aber vermutlich müßte ich über Jean Seberg und ihr trauriges Ende mal eine richtig große Geschichte schreiben. Tief erschüttert verließ ich das Astor, ein ganz gewöhnlicher Kinogeher. Michael Rutschky

Foto: Ungefähr 1962. Ulla Wittig an Stelle von Jean Seberg.