Zittern um die Erpresserstory

■ Der Düsseldorfer "Express" berichtete über einen Erpresser, der Steine auf Mercedes-Autos warf. Die Polizei beschwerte sich beim Presserat: Die Zeitung habe Nachahmungstäter ermutigt

Erpressungen haben Konjunktur, sagen die Ermittler. Wer droht, Lebensmittel zu vergiften, schafft es zwar so gut wie nie, das geforderte Lösegeld einzutreiben. Aber die Polizei steht immer vor dem Dilemma, ob sie die Öffentlichkeit warnen soll – oder ob das Nachahmer ermutigt und die Fahndung erschwert. Und was passiert, wenn die Polizei lieber dichthalten will, die Medien aber dennoch von dem Verbrechen erfahren? Als Jan Philipp Reemtsma entführt wurde, wußten es viele Medien, schwiegen aber.

Anders im Oktober letzten Jahres. Ein Unbekannter verlangte zehn Millionen Mark von Mercedes und drohte, von Brücken Pflastersteine auf Autos dieser Marke zu werfen. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, warf der Erpresser eine Woche später in Neuss am Niederrhein Steine auf eine Mercedes-Haube, der Fahrer hatte Glück und blieb unverletzt. Die Polizei informierte über den Steinwurf, aber nicht über die Erpressung – um keine Trittbrettfahrer zu ermutigen. Woher auch immer, die Düsseldorfer Redaktion der Boulevardzeitung Express bekam Wind davon und ließ sich auch in langen Telefonaten mit der ermittelnden Stuttgarter Polizei nicht abhalten, über den „10-Millionen-Erpresser“ zu berichten.

Vergangene Woche hatte sich der Deutsche Presserat mit der Beschwerde der Stuttgarter Polizei gegen diesen Bericht zu befassen. Im allgemeinen tagt das Selbstkontrollgremium der Printmedien unter sich und entscheidet aufgrund der schriftlichen Beschwerde und einer Stellungnahme der Zeitung darüber, ob die Veröffentlichung gerügt wird oder nicht. In diesem Fall hatte das Gremium, paritätisch mit zehn Journalisten und zehn Verlegern besetzt, beide Seiten eingeladen, dazu Vertreter von erpreßten Firmen.

Barbara Nickerson, Pressechefin von Nestlé Deutschland, berichtete, sie sei im allgemeinen zufrieden mit der Kooperation der Presse. Die meisten Redaktionen verstünden mittlerweile, daß Polizei wie Unternehmen zunächst Zeit bräuchten, um die Gefahr von tatsächlich vergifteten Lebensmitteln abzuschätzen und die Einzelhändler zu warnen. Doch führe der Wettbewerb unter den Redaktionen, die fürchten, eine Nachricht später als die Konkurrenz zu melden, „immer zu einer Zitterpartie“.

Auch der Sprecher der Stuttgarter Polizei war im Prinzip voll des Lobes: Die Erfahrungen mit Redaktionen „sind im allgemeinen ausgezeichnet“ – nur eben der Düsseldorfer Express habe bei der Mercedes-Erpressung nicht akzeptieren wollen, „daß es Sache der Polizei ist zu entscheiden, ob es besser ist, die Öffentlichkeit zu informieren oder nicht“. Der Fall zeige, daß es sonst zu verheerenden Folgen komme: Der Express- Bericht, von Zeitungen in ganz Deutschland aufgegriffen, habe bewirkt, daß in den folgenden Tagen dreimal in verschiedenen Regionen Steine auf Mercedesfahrer geworfen wurden – offensichtlich von Nachahmungstätern.

Der Pressekodex, auf den sich die Beschwerde gegen den Express berief, verpflichtet die Medien, „die Berichterstattung im Interesse der Aufklärung von Verbrechen in einem bestimmten Zeitraum ganz oder teilweise zu unterlassen“ – allerdings nur, wenn das Ersuchen der Polizei „überzeugend begründet ist“. Die geladenen Redakteure des Express verteidigten ihre Entscheidung: Sie hätten nach den Telefonaten mit der Polizei lange diskutiert und sich dann entschieden, ihre Leser zu warnen: Autofahrer und Spaziergänger sollten in der Nähe von Brücken auf Verdächtige achten.

Eine Befragung beider Seiten ergab, daß die Polizei tatsächlich damals schon einen Kontakt mit dem vermutlichen Täter hatte und eine Festnahme bevorstand – dies aber den Redakteuren verschwieg. „Hätten wir das gewußt, hätten wir wohl nichts veröffentlicht“, erwiderten die Express-Redakteure. Statt dessen wurden sie damals nur allgemein vor einer höheren Gefährdung gewarnt, falls die Erpressung bekannt würde.

Dieser Punkt war schließlich entscheidend für das Votum des Presserats: Eine „überzeugende Begründung“ für das Ersuchen der Polizei müsse immer für den Einzelfall gegeben werden. Obwohl also im Fall des Mercedes-Erpressers nicht ausgeschlossen werden kann, daß der Express-Bericht die Ermittlungen tatsächlich behindert hat, blieb dem Presserat nur der Freispruch. Und die Aufforderung an die Polizei, eine Zeitung, die sie von einer Veröffentlichung abhalten will, „über konkrete Anhaltspunkte vertraulich und vertrauensvoll zu informieren“. Michael Rediske

Der Autor ist Mitglied des Presserats