HIV-Patienten machen Drug-Holidays

Aufregende Versuche in den USA: Patienten verzichten freiwillig vorübergehend auf ihre Kombinationstherapie gegen Aids und trainieren ihr Immunsystem. Die ersten Versuche geben Anlaß zur Hoffnung  ■ Von Manfred Kriener

Mark Deal und Richard Shaw machen Urlaub. „Drug-Holidays“ heißt ihr ungewöhnliches Experiment: Die beiden machen Urlaub vom täglichen Pillencocktail. Für eine noch ungewisse Zeit werden die zwei Männer ihre antiviralen Medikamente absetzen. Sie sind nicht die einzigen. Gleich mehrere Studien sind in den USA angelaufen, in denen „Patienten mit HIV“ zu „Patienten ohne Medizin“ werden, die auf ihre lebenswichtigen Virenkiller verzichten. Die Experimente sind ein neuer Versuch, die trostlose Perspektive der toxischen Pillenorgie in der Aidstherapie zu durchbrechen. Entscheidende Frage: Kann das Immunsystem das Virus irgendwann allein in Schach halten, ohne den Dauerbeschuß mit Medikamenten?

Bisher hat die Medizin diese Frage mit einem klaren Nein beantwortet. Alle Versuche, die tägliche Arzneidosis einzustellen oder auch nur zu lockern und die Patienten auf eine weniger belastende Erhaltungstherapie mit halbierter oder gedrittelter Tablettenzahl umzustellen, sind fehlgeschlagen. Kaum war die Arznei reduziert, stieg die Zahl der Viren wieder an. Seitdem gilt: Selbst Patienten, bei denen das Virus im Blut über längere Zeit nicht mehr nachweisbar ist, müssen ihre Medikamente weiter nehmen. Vielleicht noch fünf, vielleicht noch zehn Jahre, vielleicht aber auch lebenslänglich.

Diese nicht eben freudige Erkenntnis wurde durch einen Mann über den Haufen geworfen, der als „Berlin-Patient“ seit Monaten die Fachleute irritiert. Dem Infizierten, dessen Krankengeschichte zum neuen Hoffnungsträger geworden ist, waren bereits unmittelbar nach seiner Infektion in einer Berliner Praxis die üblichen antiviralen Mittel verschrieben worden. Wegen einer akuten Hepatitis und einer Hodenentzündung hatte der Patient zweimal für einige Tage seine Therapie abgebrochen, wieder gestartet, abgebrochen und wieder gestartet. Bis er aus eigenem Entschluß endgültig auf die Kombinationstherapie verzichtete. Inzwischen sind, so die Beobachtungen des Robert-Koch-Instituts, eineinhalb Jahre seit der letzten antiviralen Therapie vergangen. Und das Virus ist immer noch unter Kontrolle, der Berlin-Patient gesund geblieben. HIV-Partikel sind zwar vorhanden, aber die Viruslast ist weiterhin so niedrig, daß sie mit dem üblichen Verfahren im Blut nicht nachweisbar ist.

„Ich sehe nicht ein, warum andere Infizierte nicht auch zum Berlin-Patienten werden können“, sagt Dr. Franco Lori, Leiter des therapeutischen Forschungsinstituts der Georgetown University. Lori hat mit drei Freiwilligen eine Intervalltherapie begonnen, die er „Stop and Go“ nennt. Seine Patienten haben die übliche Langzeitbehandlung mit einer Kombination aus drei Aidsmedikamenten hinter sich, in deren Verlauf die Virusmenge im Blut unter die Nachweisbarkeitsgrenze fiel – ein durchaus gewohnter Befund der heutigen Therapiepraxis.

Loris drei Versuchspatienten haben es nach erfolgreichen Affenversuchen riskiert: Noch im alten Jahr haben sie ihre Pillen abgesetzt. Als das Virus nach einer Woche im Blut wieder auftauchte, wurden die bewährten antiviralen Mittel verabreicht und nach dem erneuten Absinken der Viruslast unter die Nachweisbarkeitsgrenze wieder gestoppt. Beim zweiten Mal habe es bereits zwei Wochen gedauert, bis die erhöhte Viruslast im Blut meßbar war, sagt Lori. Beim dritten Mal, so die Zwischenergebnisse, habe der Erreger sogar zwischen sechs und acht Wochen gebraucht, bis er sich im Blut zurückmeldete. Loris große Hoffnung: Durch seine Stop-and-Go- Strategie wird das Immunsystem womöglich trainiert, das Virus aus eigener Kraft unter Kontrolle zu halten. Sollten sich die HIV-freien Intervalle weiter verlängern, könnte irgendwann eine stabile Pattsituation hergestellt sein.

Einen ähnlichen Versuch der Therapiepause haben auch Forscher der nationalen Gesundheitsbehörde der USA (NIH) mit Freiwilligen in Bethesda unternommen. Mark Deal und Richard Shaw sind die ersten von 50 angepeilten Patienten. Die Testgruppe ist zusätzlich zur üblichen Kombinationstherapie ein Jahr lang mit Interleukin-2 behandelt worden. Der Immunstimulator IL-2 soll über eine Verstärkung der Körperabwehr helfen, das versteckte, „schlummernde“ Reservoir des Virus aufzuspüren und zu bekämpfen. Nach der Interleukin-Behandlung beginnt die Therapiepause. Testpatient Shaw geht indessen ohne Illusionen in das Experiment: „Wenn nichts herauskommt, gibt mir der Versuch wenigstens die Chance, für einige Wochen ein normales Leben zu führen.“ Richard Davey, der die Studie leitet, verspricht sich bestenfalls bei zehn von 50 Patienten einen Erfolg. „In Einzelfällen kann das Immunsystem vielleicht tatsächlich eine reduzierte Virusmenge kontrollieren, und wenn das der Fall ist, sollten wir uns diejenigen Patienten genauer ansehen.“ Erfolgversprechend scheint die Strategie vor allem bei Infizierten, deren CD4- Helferzellen besonders empfindlich auf HIV reagieren. Im Laborversuch läßt sich das Reaktionsvermögen gezielt untersuchen, wenn man isolierte Helferzellen mit HIV-Partikeln „provoziert“.

Die neuen Studien mit Therapieunterbrechern sind trotz enger ärztlicher Überwachung noch umstritten. Pharmariese Hoffmann La Roche zeigte sich besorgt und warnte davor, die Behandlungserfolge durch solche Experimente aufs Spiel zu setzen. Die Patienten könnten sich einer „unkontrollierbaren Verschlimmerung ihrer Krankheit aussetzen“. Bei einem Erfolg würde der Schweizer Konzern allerdings einige Millionen Fränkli weniger umsetzen.

Von uns befragte Ärzte und Experten finden die US-Experimente der Drug-Holidays dagegen verantwortbar. Resistenzentwicklungen seien nicht zu befürchten. Lutz Ebert, Medizinreferent der Deutschen Aidshilfe, glaubt, daß die Versuche auch dem Therapiealltag entsprechen, weil ständig Patienten ihre Therapie unterbrechen – meist wegen der Nebenwirkungen. Ebert warnt allerdings vor individuellen Experimenten außerhalb ärztlich überwachter Studien.

Uli Marcus, Aidsfachmann im Robert-Koch-Institut, hält die Versuche „unter klar definierten Bedingungen und bei entsprechend ausgesuchten Patienten für sinnvoll und verantwortbar“. Durch die derzeitigen Therapien verlerne das Immunsystem, auf HIV zu reagieren. Marcus: Mit dem Aussetzen der Therapie werde das Virus wie eine Lebendvakzine eingesetzt.