Mathematische Gleichungen der Gefühle

Benoit Jacquots „Schule des Begehrens“ nach einem Roman von Mishima zeigt den Verlauf einer Liebesbeziehung als unausgesetztes Austarieren von Machtpositionen, als kompliziertes, in Zickzacklinien verlaufendes Abhängigkeitsgeflecht — nahe der Kamera  ■ Von Marion Löhndorf

Fein sezierend, mit distanziertem Scharfblick inszeniert Benoit Jacquot eine kleine Ballade von der sexuellen Hörigkeit: Mit quasi dokumentarischem Impetus, so daß keine Gemütsbewegung des Helden und der Heldin, festgehalten in zahllosen Großaufnahmen, unbemerkt bleibt. Er zeigt den Verlauf einer Liebesbeziehung als unausgesetztes Austarieren von Machtpositionen, als kompliziertes, in Zickzacklinien verlaufendes Abhängigkeitsgeflecht. Aktion, Reaktion, Schläge austeilen, Schläge einstecken, ein quälender Gefühlskampf unterm Mikroskop. Jacquots Film ist so spröde, daß die Emotionen, die er umkreist, schon wie in Formaldehyd eingelegte Objekte wirken oder aufgespießte Schmetterlinge: nicht mehr lebendig, aber zur genauen Analyse freigegeben. Das ist nur deshalb erträglich, weil die Gefühle, die er ins Bild setzt, so exzessiv sind, daß sie selbst in dieser dehydrierten Darreichungsform noch genug Kraft haben, uns zu erreichen. Der Untertitel „Schule des Begehrens“ jedenfalls ist irreführend; im französischen Original lautet er, etwas direkter: „L'Ecole de la chair“ – „Die Schule des Fleisches“.

Die Geschichte basiert auf einem hierzulande unveröffentlichten Roman von Mishima. Sie dreht, so simpel, wie sie ist, immerhin ein gängigeres Modell der Liebe um: Eine nicht mehr ganz junge, sehr wohlhabende Frau verfällt einem durchaus jungen, schönen Tagedieb (Vincent Martinez). Sie nimmt ihn mit zu sich, später zieht er ganz zu ihr. Das Klischee vom reichen alten Mann und dem schönen Mädchen, das sich kaufen läßt, steht kopf. Hier ist der Junge, Quentin, das obskure Objekt der Begierde: Er wohnt schäbig, arbeitet manchmal als Kellner in einer Bar, gelegentlich prostituiert er sich; Frauen und Männer gehören zu seinen Kunden. Sein Kapital ist sein Aussehen, das jeden blendet.

Seine Verehrerin Dominique gibt Isabelle Huppert, die in diesem Film so verhuscht aussieht wie nie. Man fragt sich, warum – vielleicht, um ein Attraktivitätsgefälle zwischen der Geliebten und dem Liebhaber herzustellen? Der läßt sich jedenfalls nicht so vollständig kaufen, wie sie es sich wünscht und auch leisten kann. Je mehr sie sich quält, desto ungenierter demonstriert Quentin freundliches emotionales Desinteresse: eine nicht gerade überraschende psychologische Volte, aber bezwingend genau erzählt. Manchmal läßt Quentin auch sadistisches Vergnügen an ihren Tränenblicken erkennen. Interessanterweise inszeniert Benoit Jacquot diese Entwicklung nicht als von Anfang an gegeben, als schicksalhaft, sondern als kleinteilige Ereigniskette von Ursache und Wirkung.

Schritt für Schritt begibt sich Dominique tiefer in die Abhängigkeit; Quentin tastet sich nicht unroutiniert vor und beobachtet, wie weit er gehen kann. Beim ersten Rendezvous im gediegenen Restaurant benimmt er sich rüpelhaft, wird von ihr zurechtgewiesen und arrangiert sich. Beim anschließenden Besuch in der Spielhölle, seinem Territorium, klebt er an einem Bildschirm und bewegt sich auch dann nicht von der Stelle, als sie entnervt geht. Sie kommt zurück, dieses Mal geht der Punkt an ihn. Und so fort; lauter kleine Unterwerfungsrituale. Beide agieren, so scheint es, halb bewußt; ihre Liebesbeziehung ist bar jeder Romantik und Naivität. Jedenfalls bis zu einem bestimmten Punkt, denn auch die noch so ausgebuffte Gefühlstaktik ist ein Spiel mit dem Feuer. Spannender- und realistischerweise läßt Jacquot es nicht zu einem Ausgleich der amourösen Machtverhältnisse kommen, zu einem Happy-End. Er zeigt, wie sich die Manipulationszusammenhänge auflösen und umkehren können, wie die Neigung zur Abhängigkeit auch die Fähigkeit zur Unterdrückung enthält: als Kehrseite derselben Medaille.

Jacquots Film setzt radikal auf die Oberfläche der Bilder. Das macht ihn zu einem intelligenten, vielleicht guten, aber nicht zu einem großen Film. Die Abgründe liegen offen zutage, die Dämonie der Liebe steht im Scheinwerferlicht; die Angst, die Einsamkeit, die Verzweiflung. Von dieser Prämisse ging Benoit Jacquot schon bei der Besetzung aus: „Ich wußte, daß die Persönlichkeiten von Isabelle Huppert und Vincent Martinez eher in Richtung Kinnhaken statt in Richtung Küsse gehen würden. ,L'Ecole de la Chair‘ besteht ausschließlich aus Gefühlsgleichungen, aber es wird versucht, jede Art von Gefühligkeit auszuschalten.“

„Schule des Begehrens“. Regie: Benoit Jacquot. Mit Isabelle Huppert, Vincent Martinez u.a. , F 1998, 105 Min.