„Sicherheit gibt es nicht“

■ Interview mit Klinik-Chef Professor Dr. Peter Kruckenberg über den Freigänger, der eine Frau vergewaltigte und sich danach das Leben nahm

Ein Freigänger der psychiatrischen Klinik Bremen-Ost hat am Wochenende eine Frau stundenlang gequält und vergewaltigt. Nach der Tat erhängte sich der Mann vor den Augen seines Opfers. Der Mann hatte 1975 eine 17jährige Apothekenhelferin umgebracht. Danach vergewaltigte er immer wieder Frauen. Über den Fall sprachen wir mit Professor Peter Kruckenberg, Leiter der psychiatrischen Klinik Bremen-Ost.

Herr Kruckenberg, haben Sie eine Erklärung dafür, warum der Mann rückfällig geworden ist?

Mit Erklärungen ist das in solchen Fällen sehr, sehr schwierig. Wir haben diesen Rückfall nicht erwartet. Das war ein Patient, den wir sehr lange kannten. Nachdem er von 1989 bis 1992 aus der Klinik entlassen worden war – im übrigen gegen unser Votum – ist er nach einer Wiederholungstat zurückgekommen und hat sich sehr gut auf die Therapie eingelassen.

Wie sah diese Therapie aus?

Er wurde gesprächstherapeutisch, milieutherapeutisch und arbeitstherapeutisch betreut. Außerdem hat er sich einer externen Psychotherapie unterzogen. Dieses umfassende Therapieprogramm haben wir in Bremen entwickelt, und es ist inzwischen bundesweit zum Modell geworden. Zur Therapie gehört auch, daß die Täter schrittweise nach draußen dürfen. Das war auch bei diesem Patienten so. Er durfte seit 1993 Ausgänge machen. In den ganzen Jahren hat er sich immer sehr genau an die Auflagen gehalten. Er hat sich auch mit seinen Taten und dem, was sie für die Opfer bedeutet haben, auseinandergesetzt.

Sie sagen, der Patient sei langsam auf ein Leben in Freiheit vorbereitet worden. Zeitungsmeldungen zufolge soll er die Klinik am Wochenende das erste Mal seit Jahren verlassen haben - ohne Begleitung. Stimmt das?

Nein. Das ist nicht wahr. Der Patient hat seit 1993 stufenweise Ausgang bekommen und zwar erst nur in Begleitung. Diese Programme werden jährlich mit der Strafvollstreckungskammer abgeklärt, und sie werden alle drei Monate noch einmal mal mit dem Therapieplan abgestimmt. Außerdem werden die Ausgangsregeln jede Woche besprochen. Das heißt, wir haben ein dichtes System, das den Rahmen genau festlegt. Diese Ausgänge sind für die Therapie unerläßlich. Die Triebproblematik tritt in der Klinik zurück. Die Patienten gewinnen in der Klinik sehr schnell den Eindruck, daß sie gesund seien. Erst wenn die Patienten draußen wieder schrittweise belastet werden, treten die Schwierigkeiten auf, so daß man sie bearbeiten kann. Es hat keinen Sinn, jemanden nur in der Klinik zu therapieren, ihn dann nach Jahren rauszulassen und zu hoffen, er sei gesund. Im Fall dieses Patienten sind wir genauso verfahren, und wir alle waren der Meinung, daß der Patient auf einem guten Weg war.

Und warum haben Sie sich so getäuscht?

Das ist eine gute Frage. Es gibt einfach keine Sicherheit. Jeder möchte Sicherheit, und die gibt es nicht. Das muß man der Bevölkerung deutlich sagen. Es gibt wissenschaftlich erforschte Prognose-Kriterien, die besagen, was sich günstig auf die Stabilität und damit auf Rückfallverhütung auswirkt. Diese Kriterien haben wir auch bei diesem Patienten angewandt. Aber diese Kriterien sagen nie etwas Absolutes aus. Selbst unter günstigen Bedingungen hat man keine Sicherheit.

Und wie hoch ist Ihrer Erfahrung nach die Rückfallquote?

Wir haben in den letzten 20 Jahren keine gravierenden Rückfälle erlebt. Dies ist der erste gravierende Fall. Das ist nicht nur unser Verdienst. Es lassen sich nicht alle Eventualitäten ausschalten.

Sie führen ja immer das Wort vom „Restrisiko“ im Munde...

Es ist schlicht und einfach nicht möglich, mit letzter Sicherheit auszuschließen, daß ein psychisch kranker Straftäter rückfällig wird. Die Gesellschaft muß sich entscheiden: Will sie jeden, der möglicherweise ein Risiko für jemanden ist, dauerhaft einsperren? Soviele Zellen gibt es in Deutschland gar nicht. Das heißt, es gibt keine Alternative. Es geht nur darum, sorgsam mit diesen Menschen umzugehen. Aber es bleibt in jedem Einzelfall ein ganz mühsamer Balance-Akt. Und wir erwarten von der Bevölkerung, daß sie uns unterstützt bei diesem Risiko.

Wenn Sie vom Restrisiko reden, klingt das nicht zynisch für die Opfer?

Nein. Das ist nicht zynisch. Das ist so. Das ist wie im Straßenverkehr. Sie können noch so vorsichtig fahren, trotzdem können Sie einen Unfall bauen. Das gehört zum Leben. Wir müssen dieses Risiko ganz stark im Auge haben. Wir als Psychiater wissen, was es bedeutet, so gequält zu werden wie diese Frau. Wir arbeiten in einem Spannungsfeld. Wir müssen aufpassen, daß nichts passiert, und wir müssen einen Menschen fördern, so daß er schrittweise auf die Freiheit vorbereitet wird. Dabei kann es immer wieder zu Fehleinschätzungen kommen.

So wie bei dem Freigänger, der die Frau vergewaltigt hat?

Nein. Das ist ja das Problem. Uns ist nichts eingefallen, was wir falsch gemacht haben könnten.

War der Mann denn ein hoffnungsloser Fall?

Nein, er war kein hoffungsloser Fall. Das ist ja das Problem. Alle Beteiligten waren der Meinung, daß er auf einem guten Weg war. Er hatte eine Tochter und wollte ihr ein guter Vater sein. Und genau darum macht uns das jetzt sehr zu schaffen. Wir sehen an dieser Stelle noch einmal sehr deutlich, daß es keine Sicherheit gibt. Unsere Mitarbeiter arbeiten unter einem unerträglichen Druck. Die Patienten sagen: Wir sind gesund. Die Bevölkerung sagt: Ihr müßt die Patienten total sichern. Und das Gesetz sagt: Ihr müßt die Patienten auf ein Leben in Freiheit vorbereiten. Und dazwischen müssen wir einen Weg finden.

Fragen: Kerstin Schneider