Wenn aus Mit-Bürgern Bürger werden

■ Die von Rot-Grün geplante doppelte Staatsbürgerschaft, gegen die die Union jetzt mobil macht, verheißt eine Umorientierung deutscher Selbstbetrachtung. Der Integrationsprozeß wird nicht einseitig sein. Die Deutschen werden lernen, ihr Deutschsein komplexer zu erleben.

Das von der Bundesregierung vertretene Einbürgerungsgesetz, das auf Doppelstaatsbürgerschaft und Doppelpaß basiert, ist, was Bedeutung und Reichweite betrifft, potentiell mit dem Grundgesetz und der großen Zäsur von 1968 vergleichbar: als eine fundamentale Umorientierung deutscher Gesellschaft, Identität, Selbst- und Fremdbetrachtung.

Es gibt wohl wenig Länder auf der Welt, die in diesem Jahrhundert so zahlreiche und grundverschiedene politische Regimes hervorgebracht haben wie Deutschland: eine autoritäre Militärmonarchie; eine labile und krisengeschüttelte – wenn auch formal gesehen liberale – Demokratie; die wohl mörderischste Version einer faschistischen Diktatur; eine leninistisch-stalinistische Linksdiktatur und parallel dazu eine fast bis zur Langeweile stabile und reiche liberale Demokratie. Eines hatten sie alle gemeinsam – gleichsam als ruhender Pol und stets erkennbare Konstante: die Klarheit des Deutschseins. Man konnte sich dessen schämen oder rühmen, seine Identität vertuschen oder mit ihr prahlen, aber die Parameter waren allen Insidern wie Outsidern komplett verständlich und klar.

Mit der Staatsbürgerschaftsreform wird langsam, aber sicher eine Neudefinition dessen in Gang gesetzt, was es eigentlich heißt, Deutscher zu sein. Die eingespielten kulturellen Kodizes des Landes werden weiter bestehen, aber neue werden hinzukommen. Zweifellos wird es irgendwann mal eine türkisch-deutsche Schriftstellerin geben, die, wenn sie auf deutsch schreibt, aber Themen aus ihrer türkischen Kultur verarbeitet, völlig selbstverständlich vom Gros der deutschen Bevölkerung als eine deutsche Schriftstellerin und nicht als eine der deutschen Sprache kundige türkische Schriftstellerin angesehen wird. Das „Wir“ und „Ihr“ wird sich langsam ändern. Dies heißt natürlich nicht, daß es nicht weiterhin Unterschiede, Rivalitäten, Resentiments und sogar auch Haß zwischen den verschiedenen eingebürgerten Ethnien und Sprachgruppierungen geben wird. Aber die Konflikte werden innerhalb der Großfamilie ausgetragen, in der – zumindest formalrechtlich – alle dem Staat gegenüber gleichgestellt sein werden. Was sie heute nicht sind.

Der Gesetzentwurf verlangt eine Anpassung fast ausschließlich von den Bittstellern, den Schwächeren, den – das muß man nach all den Jahren leider immer noch sagen – Ausländern. Sie müssen Verfassungstreue bekunden; sie müssen straffrei sein; sie müssen sich der deutschen Sprache kundig erweisen. Letzteres ist nicht ganz unlogisch. Denn obwohl ich in den USA ein exponierter Gegner der „English Only“-Plebiszite und –Gesetzgebungen bin – da ich sie als diskriminierend, stigmatisierend und unnötig empfinde, weil im Endeffekt die Hispanics, gegen die dies gerichtet ist, auch Englisch lernen –, halte ich die Forderung nach Erwerb der deutschen Sprache im jetzigen Kontext Deutschlands und seiner einzubürgernden Menschen zumindest für eine Zeitlang für angebracht. Obwohl noch unklar ist, welches Niveau hier eigentlich anvisiert wird.

Die „Fremden“ müssen all diese Hürden überspringen, während sich die Deutschen auf die Schultern klopfen, was sie für gute und aufgeschlossene Menschen sind. Aber der Integrationsprozeß wird kein einseitiger bleiben. Auch die Deutschen werden lernen, ihr Deutschsein anders, facettenreicher und komplexer, zu erleben. Es wird dann vielleicht mal nicht mehr gang und gäbe sein, wie es noch heute tagtäglich passiert, daß eine Person wie meine Frau, die schwarzhaarig ist und eine etwas dunklere (“südländische“) Hautfarbe hat, aber gebürtige Wienerin ist, in Berliner Geschäften, nachdem sie nur einen Satz auf deutsch gesprochen hat, folgendes zu hören bekommt: „Ach, Sie sind Wienerin. Wie schön, wir dachten schon, Sie wären Ausländerin.“

Dies spricht Bände. Es wird nach Einführung der Doppelstaatsbürgerschaft nicht nur nach Regionen und Klassen unterschiedene, sondern auch ethnisch-linguistisch-kulturell-religiös verschiedene deutsche Bürger geben. Dieses so furchtbar klingende, weil noch immer so klar abgrenzende Präfix „Mit“ vor „Bürgern“, das bezeichnenderweise hauptsächlich bei jüdischen, ausländischen und anderen eben nicht-deutschen Mit-Bürgern verwendet wird, wird vielleicht verschwinden. Die neueingebürgerten Menschen werden zum ersten Mal aktiv und nicht nur in einer ghettoisierten Vorzeigeart – wie etwa „die türkischen Kolleginnen und Kollegen der IG Sowieso“ – am politischen Leben Deutschlands teilnehmen. Wir werden dann erleben, wie plural sie sind und wie bereichernd sie für die deutsche Öffentlichkeit sein werden. Es ist zwar anzunehmen, daß diese Neudeutschen zumindest am Anfang in disproportionaler Weise die Sozialdemokraten und die Grünen unterstützen werden, weil es ja eine Regierungskoalition aus diesen beiden Parteien war, die den ersten Schritt zu ihrer politischen Emanzipation und Einbürgerung unternahm. Aber ich könnte mir gut vorstellen, daß durch die vorhandenen Klassenunterschiede innerhalb dieser großen Gruppe neueingebürgerter Menschen künftig auch die liberalen und konservativen Parteien in Frage kämen.

Im Grunde geht es um folgendes gravierende Defizit. Im Rahmen meiner zwar kurzen, aber zahlreichen Deutschlandaufenthalte seit 1974 ist mir bis jetzt noch niemals ein aus dem Ausland stammender Taxifahrer begegnet, der sich auch nach den rudimentärsten Kriterien deutsch fühlt oder von der Gesellschaft als Deutscher akzeptiert wird. Auch ein seit 1962 in Düsseldorf lebender griechischer Taxifahrer fühlte sich im April 1998 in keinster Weise deutsch.

Auch in New York sind die Taxifahrer nach ihrem eigenen Selbstverständnis oder in der Perzeption der Kunden keineswegs Amerikaner. Das verrät schon die Konversation mit der Funkzentrale, die – undenkbar in jeder deutschen Stadt – auf Gujarati, Bengali, Urdu, Tamil, auf keinen Fall aber auf Englisch geführt wird. Aber es gibt durchaus Unterschiede: Ein New Yorker Taxifahrer aus Chittagong in Bangladesch erzählte mir mit sorgenvoller Miene, daß seine Kinder, die vor drei Jahren mit ihm in die USA gekommen waren, sich für seinen Geschmack bereits zu sehr amerikanisiert hätten und auf dem besten Wege wären, sich in ihre neue Welt zu integrieren. Die Sorge eines aus der Türkei stammenden Berliner Taxifahrers, des Deutschen mächtig, war genau umgekehrt. Daß nämlich seine in Deutschland geborenen, inzwischen erwachsenen Kinder sich noch immer nicht akzeptiert fühlten in dem einzigen Land, das ihre Heimat sei, das sich dieser Kategorie jedoch bis jetzt so schmählich entziehe. Den ersten Schritt auf dem langen Weg, diese Schmach zu tilgen, wird das neue Gesetz der Bundesregierung leisten. Ihr gebührt der aufrichtige Dank aller universalistisch denkenden progressiven Menschen in Deutschland und Europa. Mein Dank ist ihr sicher. Andrei S. Markovits

Der Autor ist Professor an der University of California in Santa Cruz. Er arbeitet zur Zeit am Berliner Wissenschaftskolleg.