Englisch ab der Ersten

Fremdsprachen lernt das deutsche Michelein immer öfter in der Grundschule. Ob Sorbisch in Brandenburg oder Türkisch in NRW, früh übt es sich am besten  ■ Von Devrim Karahasan

Bochum (taz) – „Wo befindet sich meine Zunge jetzt genau?“ Die junge Lehrerin deutet vehement auf ihren Mund und will die sie umringenden sechs Kinder auf einen englischen Laut aufmerksam machen – das zungenbrecherische „th“. Während die 10jährigen noch gebannt auf das merkwürdig verzerrte Gesicht ihrer Lehrerin Dilan Polat schauen, scheint Fabian den Trick gefunden zu haben: „Das ist ja einfach wie Lispeln!“

Einmal wöchentlich kommen die sechs Grundschüler in die Sprachschule, um sich im privaten Englischunterricht neben schwierigen Lauten wie dem „th“ auch Vokabeln und ganze Sätze beibringen zu lassen. Ziel des einstündigen Unterrichts ist dabei nicht das Erlernen der Grammatik oder komplizierter Deklinationen. Die Kinder sollen mit Liedern, Reimen und Zeichnen spielerisch an die fremde Sprache herangeführt werden. Der Vorrang liegt beim Hörverstehen und Sprechen.

Warum wählen Eltern den kostenaufwendigen Weg über eine Privatschule, um ihren Kindern vorzeitig das Englischlernen zu ermöglichen? Sie denken an die weitere schulische Laufbahn: „Englisch ist in den weiterführenden Schulen maßgeblich für den Erfolg, für die Versetzung eines Schülers“, verweist Christoph Jaffke auf die hohe Quote an Klassenwiederholungen an Gymnasien wegen des Englischen. Jaffke ist Waldorflehrer und bildet in Stuttgart Sprachlehrer aus.

Obwohl es seit langem Bestrebungen gibt, den Fremdsprachenbeginn generell in die Grundschule vorzuverlegen, ist das Ziel noch nicht in allen Bundesländern erreicht. In Nordrhein-Westfalen gilt laut einem Erlaß von 1992 die Vorgabe, 20 bis 45 Minuten Fremdsprachenunterricht in bestehende Fächer wie Sprache und Sachkunde in den Klassen 1 bis 4 einzubauen. Baden-Württemberg will ihn dagegen ab 2001 flächendeckend an den Grundschulen ab der Ersten einführen; bisher gibt es nur in dritten und vierten Klassen Englisch- oder Französischunterricht. Thüringen und Schleswig-Holstein bilden die Schlußlichter in der Rangliste der Grundschulen mit Fremdsprachenunterricht. „Ob bis dahin genügend Lehrer für diese Aufgabe qualifiziert sein werden, erscheint fraglich“, ist Jaffke aber skeptisch, ob das frühe Fremdsprachenlernen bald in der ganzen Bundesrepublik umgesetzt ist.

Gerade befinden sich die Kinder im auditiven Vorkurs, in dem sie mit spezifischen Lauten des Englischen vertraut gemacht werden. Zu diesem Zweck vergibt Dilan zunächst englische Vornamen, mit denen die Kinder sich fortan identifizieren sollen: statt Fabian nun „Tim“, statt Stefan „Steven“. Wie schnell die Identifikation funktioniert, merkt sie, als Fabian sie entschieden korrigiert: „My name is Tim!“ Den Kindern fällt es offensichtlich leicht, die ungewohnt klingenden Laute und Intonationen zu übernehmen und einzusetzen. Waldorflehrer Jaffke sieht genau darin den Vorzug des frühzeitigen Fremdsprachenlernens: „Jeder, der in der Primarstufe Fremdsprachenunterricht erteilt hat, weiß, wie außerordentlich hoch motiviert und begeistert die Kinder dieses Alters an eine neue Sprache herangehen.“

Die Kleinen lernen in Muttersprach-Qualität

Die Waldorf-Pädagogen setzen mit dem Unterricht jedoch früher ein, als es im privaten Sprachkurs auf Wunsch der interessierten Eltern passiert. Die Anthroposophen gehen davon aus, daß die Spontaneität und Offenheit der Kinder den Zugang zu neuen Sprach- und Kulturerfahrungen erleichtern. Zudem verweisen Anthroposophen auf die Flexibilität des Sprachorgans eines Kindes in der Primarstufe: Sie erlaube es, über eine lautreine Aussprache eine fast muttersprachliche Qualität zu erreichen.

Zahlreiche Ansätze, Kinder in Grundschulen auf ähnliche Weise spielerisch an eine Fremdsprache heranzuführen, gibt es bereits in verschiedenen Bundesländern. Dabei dominieren die Sprachen Englisch und Französisch. Das Programm variiert je nach geographischer Nähe der fremden Sprache: In Baden wird Französisch unterrichtet, in Sachsen auch Tschechisch, in Schleswig-Holstein Dänisch. In Brandenburg lernen die Kleinen Sorbisch und Wendisch. In Nordrhein-Westfalen dominieren Türkisch, Italienisch und Griechisch. Die Länder überlassen es der einzelnen Schule, für welche Fremdsprachen sie sich aufgrund der örtlichen Lage entscheidet. Angesichts ausländerfeindlicher Ausschreitungen sieht Jaffke dringlicher denn je die Notwendigkeit, mit der Fremdsprache so früh wie möglich zu beginnen: „Da kann kein Bildungspolitiker mehr die Argumente zugunsten eines frühen Fremdsprachenunterrichts übergehen“, meint er.