Kunst ist, wenn der Tod nahe ist

Widerstand gegen die Zumutungen dieser Welt: Theo Angelopoulos gibt Auskunft über seinen neuen Film „Die Ewigkeit und ein Tag“. Der Grieche dreht, nicht erst seitdem er 62 Jahre alt geworden ist, Alterswerke  ■ Von Oliver Fuchs

Theo Angelopoulos behält den Mantel an. Im Vorzimmer des „Amtes für Ratsangelegenheiten, Repräsentation und Wahlen“ steht er breitbeinig vor einem Ölgemälde und gibt ein Fernsehinterview. In der einen Hand eine Zigarette, in der anderen eine Untertasse, die er zum Abklopfen der Asche benutzt. Aschenbecher gibt es keine, was nicht weiter verwunderlich ist, weil direkt neben dem Ölgemälde ein Schild mit einer durchgestrichenen Zigarette hängt. Den Kameramann freut die Szene. So hat er nicht nur Porträtaufnahmen des Meisterregisseurs im Kasten, sondern auch noch Material, mit dem sich dessen Widerstand gegen die Zumutungen dieser Welt prima illustrieren läßt.

Im Mannheimer Stadthaus N1 – Sitz diverser Amtsstellen des technischen Rathauses, Volkshochschule und Einkaufszentrum – herrschte letzten Oktober wegen Angelopoulos noch mehr Betrieb als sonst. Als Ehrengast des örtlichen Filmfestivals mußte er dort einen ewig langen Tag über sich und seinen neuen Film „Die Ewigkeit und ein Tag“ Auskunft geben. Bruno Ganz spielt darin den todkranken Dichter Alexander an seinem letzten Tag. Vielleicht ist es auch nur der letzte Tag, bevor er sich in ein Krankenhaus einliefert. Aber so, wie Ganz ihn spielt und Angelopoulos ihn beobachtet, wird recht schnell klar: Das Sterben hat schon begonnen. Kunst ist, wenn der Tod nahe ist.

Die Bilder des traurig durch seine winterliche Heimatstadt Irrenden, überall Abschiednehmenden montiert Angelopoulos mit Momenten früheren Glücks. Alexanders mittlerweile verstorbene Frau Anna winkt ihm im Sommerkleid vom Strand aus zu. „Das ist ein schönes Kleid“, sagt er. „Kennst du es nicht? Du hast es von einer deiner Reisen mitgebracht.“ Aber wie sollte er sich daran erinnern? Alexander hat sein Leben lang nur an sich gedacht. Erst jetzt in der Rückblende merkt er, daß er ein paar Dinge übersehen hat und daß die Gardinen früher viel weißer waren. „Auf der Veranda weht vergessen ein Hemd von dir“, flüstert Anna. Wahrscheinlich hat sie vergessen, es von der Leine zu nehmen und zu bügeln. Frauen spielen nie eine große Rolle bei Angelopoulos.

Der Grieche dreht, nicht erst seit er 62 Jahre alt geworden ist, Alterswerke. Im Lauf seines über 30jährigen Schaffens – das ihm erst nur in seinem Heimatland Anerkennung einbrachte in Form von Zensurmaßnahmen durch die Militärdiktatoren, später immer mehr Preise auf Festivals – hat er zunehmend den Blick von Politik und Geschichte seines Landes abgewandt und universalere Themen ins Visier genommen. Auch daß er den Heimgang seines Helden Alexander als Reise und Grenzgang inszeniert, überrascht nicht. Schon Marcello Mastroianni schickte er 1986 als „Der Bienenzüchter“ auf eine Reise in den Tod. Der Dorfschullehrer läßt seine intellektuelle Welt hinter sich und taucht wieder in die bäuerlichen Ursprünge seiner Familie ein, um inmitten eines aggressiv summenden Bienenschwarms zu sterben. Die Grenze zwischen Moderne und Vormoderne ist stärker, als er dachte. In „Landschaft im Nebel“ machen sich Kinder auf, ihren Vater in Deutschland zu suchen – sie erreichen zwar die Grenze ihrer Kindheit und Kräfte, nicht aber die Staatsgrenze. Die Reise bleibt im Nebel stecken. Und in „Der Blick des Odysseus“ fährt Harvey Keitel als Filmregisseur in den Balkan, um alte Filmrollen zu suchen – am Ende ist aber gar nichts darauf zu sehen. Wieder macht sich Verzweiflung breit.

Bei diesem Film sei es ihm noch um die „Grenzen des Blicks“ gegangen, um die Frage „Was sehe ich überhaupt noch?“, sagt Angelopoulos in Mannheim, während sich bei „Die Ewigkeit und ein Tag“ alles um die „Grenze zwischen Leben und Tod“ dreht. Wie lebe ich richtig? Oder, in Anbetracht des nahenden Endes: Wie hätte ich richtig leben können? Alexander will an seinem letzten Tag unbedingt noch ein Gedicht seines Lieblingsschriftstellers aus dem 19. Jahrhundert vollenden. Ein albanischer Flüchtlingsjunge, dem er vorher aus der Patsche geholfen hat, unterstützt ihn dabei. Einmal fahren die beiden nachts Bus, draußen regnet es, da steigt plötzlich ein stark nach 19. Jahrhundert aussehender Dichter zu. Um den Bus herum radeln Personen mit gelben Regenmänteln. Das hat vermutlich insofern etwas zu bedeuten, als dieselben Radfahrer schon einmal bei „Landschaft im Nebel“ auftraten.

Im Zweiergespräch erzählt Angelopoulos zuerst noch relativ gut gelaunt Anekdoten aus seiner Zeit an der Pariser Film-Universität. Auf sein Faible für ausweglose Situationen, Traurigkeit und Todgeweihtheit angesprochen, antwortet er unwirsch: „Wissen Sie, es gibt Rockmusik, und es gibt die griechische Tragödie. Ich habe einen Sinn für die Tragödie. Wenn das eine Sünde ist, bitte ich um Absolution.“ Lange Pausen zwischen den Worten akzentuieren die Schwere des Gesagten. Angelopoulos spricht Französisch, läßt die Laute grollend wie das Meer heranrollen und sich wieder entfernen.

Jetzt ist er gereizt. „Die Filme von Welles, Murnau, Dreyer und Antonioni sind auch nicht lebensbejahender.“ Die Aufzählung klingt wie eine Kette von Vorwürfen. Auf den Einwand, daß „Blow Up“ alles in allem doch recht swinging sei, tiefes Schweigen. Wohl aus solidarischem Protest ignoriert der Übersetzer dann die Frage, wo Angelopoulos denn in Griechenland diesen majestätisch suppenden Nebel hernehme, der neben den Raum und Zeit durchfahrenden Plansequenzen sein Markenzeichen ist. „So wie Sie die Dinge sehen oder meinen, die Dinge zu sehen“, holt Angelopoulos nun gedankenversunken aus, „werden Sie Ihr ganzes Leben zubringen, ohne die Dinge zu verstehen. Menschen, die wie Sie an der Oberfläche leben, gehe ich am liebsten aus dem Weg. Mir scheint es, daß solche Menschen weniger menschlich sind.“ Später auf dem Podium beim Publikumsgespräch ist Angelopoulos nicht allein. Er hat sich liebe Freunde mitgebracht: Bruno Ganz und den Filmjournalisten Gideon Bachmann, vorher noch Übersetzer, jetzt Moderator. Der hat in dieser Rolle schon bei anderen Festivals Fragen mit der Begründung abgewiesen, der Fragesteller habe den Film nicht verstanden. Bachmann ist seit langer Zeit mit Angelopoulos befreundet, Bruno Ganz hat er vor zwanzig Jahren in Beirut kennengelernt. Und genauso sitzen sie jetzt da oben: wie Männer, die sich vor zwanzig Jahren in Beirut kennengelernt haben.

Ganz erzählt, wie Angelopoulos immer wieder den Spaziergang mit dem Hund am Meer drehen wollte und wie er nach vierzig Einstellungen mit drei Hunden immer noch nicht zufrieden war. Angelopoulos beginnt jeden dritten Satz mit „Antonioni sagt...“ Und Bachmann meint, daß man froh sein müsse, daß es Angelopoulos noch gebe, jetzt wo Tarkowskij tot sei.

Ein paarmal will niemand etwas sagen oder fragen. Stille – die Moderator Bachmann als Ergriffenheit interpretiert. „Vielleicht gibt es vor diesem Film nicht die banale Notwendigkeit, Details zu eruieren.“ Einmal kommt die Rede auf Angelopoulos' speziellen Stil. „Wenn ich jünger wäre“, sagt er, „würde ich darüber nachdenken. Aber es ist zu spät. Ich mache einfach weiter meine Filme.“ Damit benennt er präzise auch das Unbehagen, das einen befällt, wenn man ihn in die „Ewigkeit und ein Tag“ an seinem Kino der Langsamkeit und des Schweigens festhalten sieht. Vor zwanzig Jahren war es ein Stil, der eine Berechtigung hatte, später wurde Manierismus daraus, jetzt nähert er sich der Selbstparodie.

Bei ihm sei es ganz anders als bei Heidegger, sagt Angelopoulos. „Die Sprache ist nicht das Haus meines Seins. Ich habe gar kein Zuhause, weil ich immer noch danach suche. Der einzige Moment, in dem ich mich ein wenig bei mir fühle, ist unterwegs im Auto, wenn mein Blick auf die Landschaft fällt.“ Dabei läßt er sich fahren. Denn einen Führerschein besitzt er nicht. Theo geht um den Rest der Welt. Oliver Fuchs

„Die Ewigkeit und ein Tag“, Buch und Regie: Theo Angelopoulos. Mit Bruno Ganz, Isabelle Renaud, Achilleas Skevis, Griech. 1998, 132 Min.