Baron Münchhausen läßt grüßen: Gert Uwe Postel arbeitete jahrelang als angesehener Mediziner, verfertigte Gutachten, trat vor Gericht auf. Doch studiert hat er nie, geschweige denn Medizin. Ab heute wird dem begnadeten Hochstapler in Leipzig der Prozeß gemacht Von Nick Reimer

Der Mann, dem alle glaubten

Der neue Oberarzt konnte einem Leid tun. Seine im Osten geborene Frau hatte gerade ein Haus im sächsischen Colditz geerbt. Um dort glücklich zu leben, war der Mediziner des Krankenhauses Münster bereit, ins sächsische Niemandsland zwischen Dresden und Leipzig zu wechseln. Gert Uwe Postel bewarb sich auf eine Stellenanzeige im Deutschen Ärzteblatt. Denn das paßte ganz gut: Colditz liegt unweit des Krankenhauses Zschardraß. Daß sich jetzt die Eheleute Postel zertritten haben, war freilich tragisch. Statt im geerbten Haus bezieht der neue Oberarzt im Krankenhaus Zschardraß Quartier.

Gert Uwe Postels Geschichten stimmten immer. Seit fast 20 Jahren besteht sein Leben aus Geschichten. Jetzt droht die Karriere des seit Münchhausen wohl größten Lügenbarons Deutschlands jäh zu Ende zu gehen: Von heute an muß sich Postel vor dem Amtsgericht Leipzig wegen Betrugs, Amtsanmaßung und Mißbrauch von Titeln und Berufsbezeichnungen verantworten.

Auch Dr. Horst Krömker, Leiter des Zschardraßer Krankenhauses für Psychiatrie und Neurologie, paßte die Bewerbung des Arztes aus Münster gut. Groß war die Auswahl an Zuschriften nicht. Wer möchte auch in einem backsteinfarbenen Landkrankenhaus, das mehr wie eine wilhelminische Kaserne als ein medizinisches Institut wirkt, den Neurosen, Depressionen und Seelenqualen der Menschheit auf den Grund gehen? Von den zwei Bewerbern sprach nur einer fließend deutsch: der aus Münster. „Im Vorstellungsgespräch stellte er glaubwürdig dar, was er bisher gemacht hatte. Er wirkte sehr sicher, geradezu eloquent“, so der Klinikdirektor.

Doch, das beherrscht er: Gert Uwe Postel kann seine Geschichten hervorragend erzählen. Zugute kommt ihm dabei seine erstaunliche „Fähigkeit im raschen Erfassen sozialer, zwischenmenschlicher Situationen“, wie ihm Herbert Maisch, sein psychologischer Gutachter 1984 im Flensburger Prozeß bescheinigte. Damals war Postel als falscher Amtsarzt „Dr. Dr. Clemens Bartholdy“ aufgeflogen und verurteilt worden.

Postel tritt seine Stelle in Zschardraß Anfang November 1995 an. Schnell hat er sich eingearbeitet. Sowohl bei den Kollegen als auch bei der sächsischen Justiz verfügt der Mann bald über einen guten Ruf. Als Oberarzt ist er vor allem für den Maßregelvollzug zuständig – also für den Bereich, in dem Straftäter wegen verminderter Schuldfähigkeit untergebracht sind. Später fungiert der „Doktor“ auch als Gerichtsgutachter. Er wird von Richtern gern beauftragt, gelten seine Empfehlungen doch stets als „leicht verständlich“ und Postel als schnell verfügbar.

Postel tritt in Hauptverhandlungen auf, und weder Ärzte noch Richter können sich heute irgendeiner Inkompetenz entsinnen. An mehr als 30 Verfahren ist Postel beteiligt. „Schaden“, erklären die Sachsen heute, „sei bislang nicht erkennbar.“ Anfang letzten Jahres ist zwar in Chemnitz der Prozeß gegen einen wegen versuchten Mordes Verurteilten wieder aufgerollt worden. Doch der neue Experte kam zum selben Ergebnis wie der alte. Das Urteil wurde bestätigt.

„Die Abenteuer des Dr. Dr. Bartholdy“ heißt das Buch, daß Postel gemeinsam mit Rainer Pfeiffer 1986 vorlegt. Dr. Dr. Bartholdy war der Gert Postel, der 1984 in Flensburg verurteilt wurde. Der Gert Postel, der mit Pfeiffer zusammenarbeitete, soll einer der Strippenzieher in der Barschel-Affäre gewesen sein. Nach eigener Aussage vor dem Kieler Schubladen-Untersuchungsausschuß im Jahre 1994 will Postel Pfeiffer durch fingierte Anrufe – ein Telefonat beim Springerchef hier, eine Empfehlung aus dem Adenauerhaus da – als Medienreferent in der Staatskanzlei untergebracht haben. Heißt das andersrum: Gebe es Postel nicht, könnte Barschel noch leben? Zweifel sind angebracht – wie an jeder Geschichte des Gert Uwe Postel.

Denn Gert Uwe Postel versteht es perfekt, seine Geschichten zu stützen. Seine Geheimwaffe ist dabei das Telefon. Der Münsteraner Chefarzt, der seinen Kollegen in Zschardraß anrief, war kein anderer als Postel selbst. Und was sich nicht per Telefon erledigen läßt, fälscht Postel selber: Zeugnisse, Urkunden, Beurteilungen.

„Er hatte beste Unterlagen“, erinnert sich auch Günter Sippel, Referatsleiter beim sächsischen Gesundheitsministerium. Als 1996 der Chefarzt für forensische Psychiatrie im Landkrankenhaus Arnsdorf als Professor nach Berlin berufen wurde, sollte die Stelle schnellstmöglich wieder besetzt werden. Prompt wird Postel nach Dresden zum Vorstellungsgespräch geladen. Die Staatskanzlei erhält seine Akten, und auch dort kommen keinerlei Zweifel auf. Schließlich stimmt das sächsische Kabinett am 2. Juli 1996 für Gert Uwe Postel als neuen Chefarzt in Arnsdorf.

Doch dann gibt Postel die Stelle wegen angeblich zu schlechter Bezahlung bei zuviel Arbeit zurück. Der wahre Grund für den Rückzieher ist wohl Dr. Heilemann, ärztlicher Leiter in Arnsdorf. Der will sich nämlich selbst überzeugen, wen das Ministerium da als Chefarzt schickt und stellt Postel, als er seinen neuen Arbeitsplatz besichtigen möchte, so nebenbei ein paar fachliche Fragen. Postel reagiert ausweichend, merkwürdig gereizt, erinnert sich Heilemann. Er teilte dem Ministerium mit, daß Postel nach seiner Meinung weder fachlich noch menschlich geeignet sei, die vorgesehene Chefarztstelle zu begleiten.

Doch die Ministeriellen reagieren ob der in Arnsdorf verprellten Koryphäe nun ihrerseits verärgert. Heilemann erhält einen Rüffel. Und alles bleibt beim alten.

Bis eine Kollegin aus Flensburg in Zschardraß anfängt. Irgendwie erinnert sie sich an Dr. Dr. Clemens Bartholdy. Zuerst denkt sie an einen Scherz. Und Chefarzt Krömker tut die Behauptung zunächst als billigen Kollegenneid ab. Doch dann wird der Druck zu groß. Krömker greift zum Telefon, um sich beim freundlichen Leiter des Krankenhauses Münster zu vergewissern. Natürlich hat der den Namen Dr. Postel noch nie gehört.

Gert Uwe Postel scheint beweisen zu wollen, daß die Prüfung im Postdienst die beste Voraussetzung für eine Karriere als Psychiater ist. Ob das ihm – oder seiner Verteidigung – gelingen wird, ist zumindest fraglich. Die Verhandlung ist auf vier Tage angesetzt, kommenden Dienstag soll das Urteil verkündet werden. Das Strafmaß dürfte nicht unter zehn Jahren liegen. Aber bei Postel weiß man nie: Vielleicht wandert am Ende nicht er, sondern der Staatsanwalt in den Knast.