Kambodscha ist heute ein moralisches Trümmerfeld

■ Der Ruf nach einem internationalen Tribunal gegen die Führer der Roten Khmer ist naiv

Unter den Verbrechen, die in diesem Jahrhundert von Kommunisten begangen wurden, ist der Massenmord der kambodschanischen Roten Khmer an ihrem eigenen Volk wohl das mysteriöseste und monströseste. Schon seit mehreren Jahren fordern deshalb wohlmeinende Menschenrechtler ein internationales Tribunal, um die noch lebenden Führer der Roten Khmer wegen ihrer Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verletzung der Menschenrechte zur Rechenschaft zu ziehen.

Die Forderung drängt sich auf, denn die Untaten, die die kambodschanischen Kommunisten unter dem Kommando ihres „Bruders Nummer eins“, Pol Pot, während ihrer Herrschaft (1975–79) zu verantworten haben, sind ebenso offenkundig wie grauenvoll. Bei ihrem Versuch, binnen weniger Jahre eine kommunistische Gesellschaft zu begründen, vernichteten die Roten Khmer die städtische Intelligenz und liquidierten konsequent den buddhistischen Klerus ebenso wie die Dissidenten in ihren eigenen Reihen.

Die Forderung nach einem Tribunal ist nachvollziehbar, doch gleichzeitig naiv, wenn nicht gar bigott. Sie ignoriert, daß viele, die sie heute erheben oder unterstützen, den Massenmord am Mekong erst möglich gemacht haben. Die lange Liste derer, die die 1960 begründeten Roten Khmer direkt oder indirekt unterstützt haben, wird angeführt von den USA. Weil das von Prinz Norodom Sihanouk regierte Kambodscha es duldete, daß die nordvietnamesische Armee von kambodschanischem Territorium aus operierte, begann die U.S. Airforce im März 1969 mit Flächenbombardements gegen das neutrale Land. Die von Richard Nixon und Henry Kissinger angeordneten hochgeheimen Angriffe, die erst bei der Aufdeckung des Watergate-Skandals bekannt wurden, bedeuteten einen flagranten Bruch des Völkerrechts, für den sich bis heute kein internationales Tribunal zuständig gefühlt hat.

Gleichzeitig trieb die Pulverisierung ganzer Landstriche durch B-52-Bomber den Kommunisten die entwurzelten Bauern zu. So hat Norodom Sihanouk immer wieder aus guten Gründen Nixon und Kissinger für die „kambodschanische Tragödie“ verantwortlich gemacht. Doch auch der exzentrische Sihanouk, heute König Kambodschas, der jetzt ein solches Tribunal begrüßt, hat jegliche moralische Legitimation hierfür schon lange verwirkt. Nachdem Sihanouk 1970 von seinem Stabschef Lon Nol gestürzt worden war, schloß er ein Bündnis mit Kambodschas Kommunisten. In der schwarzen Uniform der Roten Khmer marschierte er mit deren Führern durch befreite Gebiete im kambodschanischen Dschungel. Als die Truppen Pol Pots am 17. April 1975 Phnom Penh erobert hatten, kehrte er als Staatsoberhaupt zurück. Obwohl er alsbald in seinem Palast unter Hausarrest gestellt wurde und fünf seiner 14 Kinder auf den killing fields ihr Leben ließen, ging der unermüdliche Taktiker 1981 erneut eine Koalition mit den Massenmördern der Roten Khmer ein. Daß die Roten Khmer nach dem Einmarsch der vietnamesischen Armee – Phnom Penh wurde vor exakt 20 Jahren „befreit“ – überhaupt überleben und weiterkämpfen konnten, haben sie neben China dem Westen zu verdanken. Als Pol Pot und seine Getreuen im Januar 1979 nach Thailand fliehen mußten, wurden sie dort nicht zur Rechenschaft gezogen. Im Gegenteil, die USA unter ihrem Präsidenten und Menschenrechtsfreund Jimmy Carter, aber auch die Bundesrepublik Deutschland und ihr Außenminister Hans-Dietrich Genscher sorgten dafür, daß statt der in Phnom Penh von den Vietnamesen eingesetzten Regierung auch weiterhin die Roten Khmer das Land bei der UNO repräsentieren durften.

Es blieb der neuen Regierung und ihren vietnamesischen Beratern überlassen, im Sommer 1979 ein „revolutionäres Volkstribunal“ gegen die „Pol-Pot-Ieng-Sary- Clique“ zu inszenieren. Doch dieses Spektakel, das mit Todesurteilen gegen die beiden nicht anwesenden Angeklagten endete, war eine pure Propagandaaktion. Der damalige Außenminister und heutige Premier Hun Sen, der Anfang Dezember 1998 einen Prozeß gegen die Rote-Khmer-Führer Khieu Samphan und Nuon Chea ankündigte, war selbst mehrere Jahre Kader der Roten Khmer; im Osten des Landes brachte er es bis zum Regimentskommandeur. Erst als die Pol-Pot-Fraktion 1978 für die ihm unterstellte Region eine Säuberung angesetzt hatte, flüchtete Hun Sen nach Vietnam.

Davon abgesehen, haben Hun Sen und seine Regierung sich in den letzten Jahren nicht gerade als Garanten der Menschenrechte profiliert. Regelmäßig wurden in Kambodscha Oppositionspolitiker umgebracht. Gleichzeitig entwickelte sich eine geradezu obszöne Korruption. Kambodscha ist nach Jahrzehnten des Bürgerkrieges ein moralisches Trümmerfeld, auf dem kein einflußreicher Politiker mehr die Integrität besitzt, daß er sich glaubhaft auf die Menschenrechte berufen und die Führer der Roten Khmer anklagen könnte. Auch die einstigen Schutzmächte der Kommunisten – China, USA, Thailand und viele andere – haben durch ihre politische und materielle Unterstützung für die Meister der killing fields jegliche moralische Autorität verspielt. Michael Sontheimer

Der Autor ist Leiter des Berliner Büros des „Spiegel“. Von ihm erschien im Rowohlt Taschenbuch Verlag: „Kambodscha, Land der sanften Mörder“ (14,80 DM)