Weicheier, Kult & Babyschänder '99

Stürzen wir uns also von der Jahresklippe in die Zukunft des Fernsehens und blicken auf Trends und Fehlschläge, Hauptfiguren und Nebenkräfte des neuen Jahres – eine Prognose  ■ Von Michael Ringel

Neunzehnhundertneunundneunzig. Ein Jahr, dessen innenpolitisches Thema Nummer eins der Regierungsumzug nach Berlin ist, begleitet von der Eröffnung der neuen Hauptstadtstudios, die zur Wahl des Bundespräsidenten Johannes Rau im Mai erstmals aus Berlin senden. Ein Goethejahr auch, das mit ca. 250 Sendungen zum 250. Geburtstag des Weimarer Dichterfürsten vorbeirauscht. Ein Jahr, das wieder einmal sein schlechtes Ereignis-Timing beweisen wird. Denn fast zeitgleich sterben kurz vor Ostern Boris Jelzin und Papst Johannes Paul II., was den öffentlich-rechtlichen Programmen und den Sondersendungen zur Wahl Kardinal Joseph Ratzingers als Innozenz XIV. die höchsten Einschaltquoten verschafft. Ein Jahr, dem die großen Sportereignisse fehlen und das bis auf die Berichterstattung zur anstehenden Libyen-Krise vom deutschen Blickwinkel geprägt ist. 1999 wird ein trotz allerlei Affären und Skandälchen beschaulich dahinbrummendes TV-Jahr.

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Januar – Gleich zu Jahresbeginn sorgt Turm-Talker Stefan Aust für ein erstes Glanzlicht, als er dieselben Gäste wie das parallel laufende „Sabine Christiansen“ einlädt und 60 peinliche Sendeminuten mit einem murrenden Publikum allein dasitzt. Sat.1-Chef Fred Kogel nimmt die Vorlage dankend an und feuert den ungeliebten Spiegel-Mann Aust am nächsten Morgen. Auf seinen Sendeplatz setzt Kogel die von Harald Schmidt koproduzierte Comedy- Show „titanic tv“, die sogleich die doppelte Quote einfährt und zum „Kult '99“ (Sat.1) avanciert.

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Februar – Ein unaufhaltsamer Trend schreitet auch 1999 voran: Sex. Und das heißt vor allem: noch mehr Sex-Telefonwerbung jetzt auch vor Mitternacht und erstmals mit dem Angebot: Telefonsex für Schwerhörige „Extrem Laut“ – wahlweise mit Gebärmutterdolmetscher: „Read my lips“. Allerdings kommt es in der Sparte Sexshows zu einem häßlichen Unfall: Die RTL 2-Show „Naddels Nippel“ muß schon nach der ersten Folge wieder eingestellt werden, da die Moderatorin Nadja Abd el Farrag während der Pilotsendung mit ihren 21 Zentimeter hohen Plateausohlen auf dem live operativ verlängerten Genital des Champagner-Prinzen Frederic von Anhalt ausgleitet und sich beide Beine bricht, damit jedoch der Bild-Zeitung zu der Schlagzeile „Naddel und der Vorhautschrei des Prinzen“ verhilft.

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März – Nachdem ihre Kollegin Susann Stahnke dem Ruf nach Hollywood folgt, um in einem Spielfilm die Gattin Hermann Görings darzustellen, erhält auch „Tagesschau“-Sprecherin Eva Hermann ein Angebot aus der Traumfabrik: Sie soll in John Waters Hitler-Biographie Eva Brauns verschollene Tochter spielen. Der akute Blondinenmangel in Deutschland jedoch führt dazu, daß im Gegenzug Tom- Cruise-Gattin Nicole Kidman als erste rothaarige und fremdsprachige „Tagesschau“-Sprecherin ins Nachrichtenfach wechselt. Die ARD nutzt den Wind der Veränderung und verlegt die „Tagesthemen“ auf acht Uhr, moderiert von Gabi Bauer bzw. Ulrich Wickert, mit Live-Interviews und einem konzentrierten Nachrichtenblock, der sich wegen Nicole Kidman größter Beliebtheit erfreut.

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April – Kurz vor Drehbeginn zum neuen SFB-„Tatort“ verklagt Hauptdarsteller Stefan Jürgens eine Berliner Programmzeitschrift, die den neuen „Tatort“-Kommissar als „erste sprechende Prostata der Fernsehgeschichte“ bezeichnet. Er verstehe als Komiker viel Spaß, doch einen solchen Tiefschlag in den Unterleib dürfe es nicht geben, läßt Jürgens verlauten. Die Hauptstadtpresse antwortet mit harscher Kritik an der ersten „Tatort“-Folge unter der Regie von Hajo Gies.

Beinahe von Publikum und Medien übersehen wird zur selben Zeit die plötzliche Einstellung des ORB-Fernsehprogramms. Die letzten 150 Zuschauer entschließen sich, einen ORB-Club zu gründen und die Höhepunkte des ostdeutschen Fernsehschaffens auf Videokassetten zu sammeln und zu tauschen.

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Mai – Eine Entwicklung wird unübersehbar: Die Mystery- Welle um „Akte X“ und ähnliche Formate ebbt ab. Doch für Grusel ist gesorgt, denn mit einer Verhaspler-Orgie gigantischen Ausmaßes nehmen Jürgen Engert (SFB) und Fritz Pleitgen (WDR) das neue ARD-Hauptstadtstudio in Betrieb. Nie wird der Zuschauer mehr Fehlschaltungen und abgewürgte Gespräche sehen als in der Sondersendung zur Bundespräsidentenwahl. Eine besondere Leistung vollbringt dabei der Kaiserslauterner Trainer Otto Rehhagel, der als Wahlmann auf CDU-Ticket für beide Kandidaten stimmt und seine Entscheidung mit taktischen Finessen begründet.

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Juni – Im Zeichen des 70er-Jahre- Revivals und als Antwort auf die wiederaufflammende Disco-Welle kehrt im ZDF das rüstige Magazin „Mosaik“ zurück, dessen Start jedoch überschattet wird durch den Ausfall des Jahres: Am selben Tag platzt der Gesundheitsministerin Andrea Fischer in einer ARD-Diskussionsrunde mit Martin Schulze endgültig der Kragen: Sie habe „jetzt genug von diesen Weicheiern und Pfeifen ohne Arsch in der Hose“. Spricht's und verschwindet in die Kulisse. Was zur „Rede des Jahres“ gekürt wird.

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Juli – Nichts, aber auch gar nichts passiert zu Beginn der Ferien. Das Fernsehen ist kaum mehr vorhanden. Wärmer wird's, und man möchte nicht mehr hinschauen. Beinahe fällt deshalb nicht auf, daß n-tv sein graphisches Erscheinungsbild verändert und als erster Sender die neuen Rechtschreibregeln anwendet. Oder ist's wie immer? (Orthographie bei n-tv: das große Buchstabenroulette.) Die „Tagesschau“ jedenfalls zieht sofort nach.

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August – Erstes Opfer des heißesten Sommers seit Anbeginn der Wetteraufzeichnungen ist der RTL-Programmchef Marc Conrad, der nach einem Sonnenstich den längsten Thriller-Titel der TV- Geschichte entwirft: „Blutjunge Babyschänder im Frauenparkhaus – Mein Mann tötete die Leihmutter seines Schwiegervaters“.

Das Sommerloch für Innovationen nutzt Pro 7 und testet „FriseurTV“: Live aus dem Salon von Udo Waltz am Ku'damm, „alles echt und frisch dabei, mit der neuen Hautevolee der Hauptstadt“. Außerdem erhält Ulrich Meyer seine letzte Chance mit einer Anschrei-Talkshow nach vollkommen neuem Konzept: „Der heiße Stuhl“.

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September – Das Comeback des Jahres bringt Hans-Joachim Kulenkampff zurück – wenn auch nur als computergenerierte Figur. In Zusammenarbeit mit Steven Spielbergs Animationsstudios wird ein Kuli nachempfundener Showmaster entwickelt, der für die ARD „Einer wird gewinnen“ doch noch ins nächste TV-Jahrtausend hinüberführen soll.

Ganz in der Tradition des investigativen Kulturjournalismus entdeckt Tilmann Jens für den ARD- „Kulturreport“ die bislang geheimen Memoiren des Johann Wolfgang von Goethe: „Dichtung und Wahrheit“, die sich leider als Fälschung herausstellen und den Abgang des Starreporters Jens ins FAZ-Feuilleton befördern.

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Oktober – Nachdem die deutsche Fußball-Nationalmannschaft an der Qualifikation für die Europameisterschaft 2000 scheitert, trennt sich Waldemar Hartmann von seiner Rotzbremse und nennt die Rasur „aktive Trauerarbeit am Ball“.

Ein großer Erfolg für das ZDF wird die sechste, von Guido Knopp produzierte Dritte-Reich-Staffel: „Hitlers Bürstelbuben“. Das Merchandising bei Time Life mit Videos und Gummipuppen sprengt alle Verkaufsrekorde.

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November – Endlich bekommt Horst Tomayer seine erste eigene Fersenhserie: „Der Richter von Rosenheim“. Als „Dr. Tormann“ wirbelt Tomayer das bayrische Städtchen mit gereimten Urteilen durcheinander.

Zum Fernsehstar des Jahres allerdings wird „die Neue“ Doris Schretzmayer, die tatsächlich nicht mehr als Schwenkfutter dienen will, sondern die weibliche Hauptrolle im neuen Mehrteiler von Dieter Wedel übernimmt: „Die Hure von Hannover“.

Und im achten Jahr merkt die Produktionsfirma von „Boulevard Bio“ endlich, daß das Berliner Ku'damm-Eck nicht mehr existiert, und schneidet das Bild des Einkaufszentrums aus dem Vorspann der Talkshow.

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Dezember – Mit der Weihnachts- Werbeidee des Jahres geht Pro-7- Chef Georg Kofler in die Fernsehgeschichte ein: In einer breit angelegten Kampagne verspricht er jedem, der eine Woche lang seine Fernbedienung bei einer Sammelstelle abgibt und nur noch Pro 7 sieht, eine Belohnung von 77 Mark. Leider geht der Marketingschuß nach hinten los, führt im Münchner Sender zu einem organisatorischen Chaos, ja zu einem halbtägigen Bildausfall am 4. Advent und verursacht Kosten in Höhe von ca. 23 Millionen Mark, die fälschlicherweise in der Jahresbilanz auch noch als Euro ausgewiesen werden und deshalb zeitweise zum doppelten Verlust führen – wobei der Rücktritt Koflers nicht als solcher gewertet wird. Während Friedhelm Brebeck in Libyen..., aber das lassen wir jetzt. Denn alles in allem wird es ein ruhiges TV-Jahr '99. Und damit – auf ins nächste Fernsehjahrtausend.