Musik für beschwingte Arbeitsbienen

Vor vierzig Jahren begann in den USA eine von einem Schwarzen gegründete Musikfirma namens Motown, den Weißen Appetit auf Soul und Tanzen zu machen. Zuvor wollten die Konzerne nichts von afroamerikanischen Künstlern wissen. Innerhalb von zehn Jahren mutierte das Unternehmen aus der Industriestadt Detroit zum Multi im Showbusineß. Es brachte glamouröse, ja, anbetungswürdige Stars wie Diana Ross & The Supremes, Stevie Wonder, die Marvelettes, Michael Jackson, Gladys Knight, Smokey Robinson, die Temptaions, Four Tops oder Marvin Gaye hervor. Eine Würdigung zum Geburtstag  ■ von Harald Fricke

Daß die schönsten Dinge im Leben umsonst zu haben sind, ist ein schöner Gedanke. Glauben mochte der in Detroit aufgewachsene Soul-Newcomer Barrett Strong daran allerdings nicht, als er im August 1959 „Money“ sang: The best things in life are free, but you can give them to the birds and bees, I need money, that's what I want. Einzig auf Geld ist Verlaß: Was nützen schon Liebesglück und all die anderen Streicheleinheiten, wenn sich zu Hause Rechnungen stapeln?

Money don't get everything it's true, but what it don't get I can't use, heißt es in einem fröhlich-pragmatischen Ton ein paar Strophen später. Dazu hämmert ein Piano die schwer heranrollende Melodie, tausend Tambourins scheppern, und ein greller Frauenchor meckert wieder und wieder that's what I want. Immerhin, es war die erste Single von Motown, der erfolgreichsten schwarzen Plattenfirma aller Zeiten.

Für einen Popsong der ausgehenden fünfziger Jahre ist das innige Verhältnis zu Konsum und Kapital ungewöhnlich. Gerade weil alle Welt im Aufschwung war, sollte das Lob der Betriebsamkeit nicht auch noch daheim in den Ohren nachklingen. Das Lied wurde trotzdem ein Hit – in der US-Hitparade für Rhythm'n'Blues (R & B), also den Charts für schwarze Musik.

Was als Botschaft nicht zur protestantischen Genügsamkeit einer weißen Mittelklasse passen mochte, galt vor allem für die schwarzen unteren Bevölkerungsschichten als befreiendes Signal. Man wollte endlich selbst etwas vom Kuchen abhaben. Zumindest der Songwriter Berry Gordy Jr. meinte es ernst mit seiner Hymne auf das Geld: Motown, benannt nach der „Motortown“ Detroit und ihrer damals blühenden Automobilindustrie, war für ihn ein Geschäft mit Popmusik, die er gern als das definierte, „was die Mehrheit der Leute kauft“.

Aus Gordys Mischung von Soul und Service ist das vermutlich einzige Plattenlabel hervorgegangen, dessen Name mit einem eigenen Musikstil verbunden wird. Wer Rock sagt, meint Rolling Stones, aber nicht EMI oder CBS. Diana Ross & die Supremes, die Temptations, Smokey Robinson oder Marvin Gaye dagegen klingen alle wie Motown. Ohne Gordys Obhut hätte Michael Jackson mit seinen Jackson 5 Brüdern wohl nie tanzen gelernt, Mrs. Ross nicht in dem Film „Lady Sings The Blues“ die Jazzsängerin Billie Holiday spielen dürfen und Gladys Knight ein Leben lang auf den Erfolg ihres „Midnight Train to Georgia“ warten müssen.

In Zahlen kommt diese frühe Form von Synergie am besten zum Ausdruck: Der „Sound of young America“ verkaufte über dreihundert Millionen Platten. Von 1960 bis in die Mitte der achtziger Jahre waren an die hundert Motown-Hits in den Top Ten der US-Charts; während der sechziger Jahre standen praktisch alle vier Wochen Songs aus dem Hause Gordy ganz oben. 1963 lag das einstige Minilabel mit seinen Singleverkäufen an dritter Stelle hinter Giganten wie RCA Victor und Columbia. Ein Jahr später wurden sie nur noch von Capitol Records und den Beatles überflügelt.

Als das Unternehmen 1972 von Detroit nach Los Angeles übersiedelte, war aus der Einmannfirma ein Betrieb mit dreihundert Angestellten geworden. In diesem Jahr nun hat Motown seinen vierzigsten Geburtstag: Gefeiert wurde das Jubiläum zwar bereits voriges Jahr, aber auch dafür gab es ganz banale finanzielle Gründe. Nachdem fünfzig Prozent der Veröffentlichungsrechte 1997 an den EMI-Musikverlag verkauft worden waren, wollte der Konzern die Investition mit Veröffentlichungen aus dem Archiv möglichst rasch wieder einspielen.

Die vierzigjährige Erfolgsgeschichte begann im Januar 1959, als Berry Gordy Jr. sich von seinem Vater achthundert Dollar lieh, um eine eigene Plattenfirma zu gründen. Vater Gordy investierte ins Ungewisse. Sein Sohn mußte bereits 1955 seinen auf Jazz spezialisierten Schallplattenladen schließen, als der Trend in Detroits Vorstädten zum flotteren Doo-Wop statt zum elegischen Bebop ging. Binnen kurzer Zeit lernte der Exprofiboxer Gordy Jr. umzudisponieren, achtete mehr auf die musikalischen Entwicklungen der Straße und hörte weniger Radio.

Bald stellte er fest, daß die Wurzeln in Gospel und Blues noch immer als ein ganz unmittelbares Frage-und-Antwort-Spiel existierten: Arbeitslose Teenager trafen sich an der Straßenecke und trugen, anstatt sich zu bekriegen, Wettbewerbe aus, wer wohl am besten singe. Wie in Predigten oder im heutigen Rap war das Wort bei denen, die es aussprachen. Gordy wechselte prompt die Seite, als er das Geheimnis des Pop begriffen hatte, wurde vom Plattendealer zum Songwriter und schrieb für Jackie Wilson 1957 den Hit „Reet Petite“.

Vom raschen Erfolg beflügelt, versuchte sich Gordy als Produzent – und scheiterte wieder kläglich, diesmal allerdings nicht am Geschmack, sondern an den Marktmechanismen. 1958 lernte er den jungen William „Smokey“ Robinson bei einem Vorsingen kennen. Knapp vier Monate später hatten die beiden eine Band zusammengestellt, und Robinson nahm mit seinen neugegründeten Miracles „Got a Job“ auf, eine freudige Antwort auf das spöttische „Get a Job“ der Silhouettes, einer lokalen Girlgroup.

Das Lied wurde bei der überregionalen Firma End-Recordings herausgebracht, von den Tantiemen sah Gordy jedoch ebensowenig wie sein Sänger. Obwohl das Lied nach massivem Radioeinsatz in die R & B-Charts eingestiegen war, bekam er am Ende einen Scheck über kümmerliche 3,17 Dollar überwiesen. In seiner Euphorie, Songs schreiben zu können, hatte Gordy glatt vergessen, sich die Verlagsrechte zu sichern. Kein guter Start für ein Soul-Imperium.

Daß ihm der enttäuschte Robinson nicht gleich davonlief, mag an der proletarischen Herkunft von beiden gelegen haben. Mit dem Kredit – den die Familie Gordy nur lockergemacht hatte, weil Berry seine Schwester Esther von dem Projekt überzeugen konnte – ging es nun für Robinson erneut ins Studio. „Shop Around“ kam im Herbst 1960 heraus und wurde für Gordy die erste Nr. 1 der R & B-Charts, die sich zudem auf Platz 2 der weißen Pop-Listen plazieren konnte. Offenbar schien der Motown- Sound auch weißen Teenagern zu gefallen.

Ein Damm war gebrochen. In den nächsten dreieinhalb Jahren landeten siebzehn weitere Hits in beiden US-Charts – darunter The Marvelettes mit „Please Mr. Postman“, Marvin Gayes „Pride and Joy“, „My Guy“ von Mary Wells oder auch die Live- Aufnahme von „Fingertips Part 2“, bei der sich ein eben erst zwölfjähriger blinder Junge namens Stevie Wonder auf der Bühne mit einem Paar Bongos und einer Mundharmonika selbst begleitete.

Motown war nicht die einzige Plattenfirma, die für einen interessierten Mainstream moderne Tanzmusik, also Soul, produzierte. Einen Monat nach Gordy begründete der Radiodiscjockey Jim Stewart in Memphis mit dem legendären Stax-Label die etwas kantigere und gospellastigere Variante zu Motown. Zugleich stand Gordy ohnehin mit zahllosen in Chicago ansässigen Produzenten in Konkurrenz, die mindestens ebenbürtige Songs schrieben.

Nur blieben die Auflagen der Singles bei Okeh, One-derful oder Chess zumeist bescheiden. Die Lieder, zumal lediglich in lokalen Radiosendern gespielt, waren mehr Zeugnis der urbanen R & B- Kultur als wirklich ambitioniert genug, die ganze Welt zu erobern. Und glamourös war deren Welt auch nicht gerade. Sängerinnen wie etwa Betty Everett verdienten mit einer Single kaum mehr als ein halbes Monatsgehalt. Bis zum Aufstieg von Motown war Northern Soul eher regionales Entertainment, mit dem sich zumeist weiße Labelchefs finanziell gerade eben über Wasser halten konnten.

Daß sich ausgerechnet der Sound der Motown-Fabrik in den USA durchsetzen konnte, ist eng an das soziale Potential von Detroit gekoppelt. Die Stadt hoch im Norden war in den zwanziger Jahren das Ziel zuwandernder Afroamerikaner, die sich von der Automobilindustrie bei Ford, Dodge und Cadillac bessere Jobs erhofften als in der Landwirtschaft der Südstaaten Alabama oder South-Carolina.

Doch die Erwartungen wurden schnell enttäuscht: Im Juni 1943 protestierten 25.000 weiße Arbeiter gegen die Gleichstellung der Rassen an den Fließbändern. Es gab Ausschreitungen, bei denen 35 Menschen ums Leben kamen. 29 von ihnen waren Schwarze, die von eingreifenden Polizeitruppen erschossen worden waren – von Weißen, die auch aus dem Süden stammten: als hätte sich die Sklaverei des vorigen Jahrhunderts mit der Hochindustrialisierung lediglich geographisch verschoben und auf andere Ordnungsmächte übertragen.

1967 wiederholten sich die Riots noch heftiger: mehr als vierzig Tote und über siebentausend Verhaftungen. Doch diesmal kamen die Aufständischen aus den Ghettos der black community, die mit ihren Aktionen gegen die Ausgrenzung demonstrierten. Die Kinder der Geprügelten von 1943 hatten sich formiert. „Jetzt stellt sich heraus, daß wir uns mit den falschen Schwarzen auseinandergesetzt haben“, bekannte Henry Ford II.

Gegenüber der Saturday Evening Post sagte er auf dem Höhepunkt der Kämpfe: „Die schwarze Mittelklasse hat sich ebenso wie wir vollkommen von dem entfernt, was in den Ghettos passiert.“

Ford lag mit dieser Einschätzung nicht falsch. Detroit war gespalten: Eine halbe Million Afroamerikaner bildete nur gut ein Drittel der Bevölkerung, von denen aber nur ein Bruchteil zur Mittelschicht aufgeschlossen hatte.

Daß die neugewonnene Prosperität lediglich Ausnahmecharakter besaß, während mit dem Abflauen des Autobooms zugleich viele Menschen arbeitslos und arm wurden, hatte in den Jahren zuvor kaum jemand bemerkt – und die wenigen etablierten Schwarzen fühlten sich nun nicht mehr betroffen. Schwarzes und weißes Bürgertum waren gemeinsam einem geschönten Bild von Rassengleichheit aufgesessen – ein Image, das gerade auch Motown befördert hatte.

Indem Motown-Stars wie Diana Ross als erfolgreiche schwarze Entertainer auf dem Cover des Time Magazine abgebildet wurden, die Temptations in Las Vegas oder zu Weihnachten in TV-Specials ihre Pirouetten drehten und Smokey Robinson von Bob Dylan als „größter Poet Amerikas“ bezeichnet wurde, schien die Trennung im realen Sozialgefüge überwunden. Was zählte schon die Realität im Zauberschein der Pop-Symbole, die gemeinsam mit den Beatles aus Flugzeugen winkten und in Paris bei Dior ihre Kleider kauften?

Der Soul dieser Zeit inszenierte sich zwar als neue schwarze Prächtigkeit, festgeschrieben mit Lackschuhen, Kaschmirrollis und Maßanzügen, die Fortsetzung der Harlem Renaissance aus dem New York der vierziger Jahre im Schallplattenformat. Doch Protagonisten des Souls spielten für ein mittlerweile überwiegend weißes Publikum, dessen Freizeitverhalten allzuleicht mit Gesinnung verwechselt wurde.

Motown-Biograph Elvis Mitchell hat den Wunsch nach Assimilierung von schwarzer Kultur durch den Mainstream mit dem Vorgehen jüdischer Entrepreneurs verglichen, als die amerikanische Filmindustrie begründet wurde. Dort wurde amerikanische Identität und Geschichte noch einmal neu erfunden, durchgespielt, zurechtgestutzt und den Massen zurückgegeben – als mediale „Birth of a Nation“.

Wie Hollywood machte auch Motown Appetit auf ein glitzerndes Leben ohne soziale Häßlichkeiten – und war trotzdem keine utopische Weltengemeinde, sondern ein Spiegelkabinett, eine Ansammlung von Sängern ohne Hof, ein Betrieb.

Berry Gordy hatte diese Show stets fest im Griff. Sein Konzept von Soul vermittelte noch die Botschaft des Herzens, dessen Dynamik allerdings ganz auf die Arbeitswelt abgestimmt war: Ein Song hatte treibend, euphorisch, schnell und vergänglich zu klingen. Mit Titeln wie „Shop Around“, „Dancing In The Street“, „First I Look At The Purse“ oder eben „Money“ ließ sich die ganze Palette materieller Wünsche durchlaufen, für die Liebe waren Schnulzen wie „You Can't Hurry Love“ von den Supremes oder das „Baby I Need Your Loving“ der Four Tops zuständig. Die chaotische Energie des flehenden Gospel war auf weltliche Dinge übertragen und zu Zweiminuten-Popsongs geronnen, die Kirchengemeinde in ein familienartiges Unternehmen überführt worden.

Der ganze Motown-Apparat funktionierte streng arbeitsteilig. Nach vier Jahren lukrativer Partnerschaft mit dem Songwriter wurde Smokey Robinson von Gordy zum Vizepräsidenten ernannt; seine Frau Cynthia übernahm die Buchhaltung. Gordys Schwester Esther stieg als Pressesprecherin ebenfalls in die Führungsetage auf. Der Rest durfte weiter singen. Und es funktionierte.

Selbst im Sound spiegelte sich die ökonomische Triebkraft von Ort und Zeit. Motown-Songs klangen mit ihrem klirrenden und krachenden Beat, als kämen sie aus den Maschinenhalle von General Motors. So ahmten die Musiker die sie umgebende Autoindustrie nach. Für „Dancing In The Street“ von Martha Reeves & The Vandellas wurde das Schlagzeug mit Stahlketten behängt, um die Atmosphäre zu steigern.

Aber auch im elektrisch verstärkt rummelnden Baß und den schrillen Bläsersätzen hallte die Fabrik nach. Es war fast wie eine Anhäufung von gebändigtem Lärm, der das Leben im Arbeitsalltag ohnehin begleitete, während die Texte dazu den inneren Motor antrieben, Speed für die Freizeit – zwischen verliebtem Gefühlsnonsense à la „(I Can't Help Myself) Sugar Pie Honey Punch“ und den täglichen Zwängen eines „Nowhere To Run“. Für das letztere wurde sogar ein Promoclip gefilmt, bei dem die Vandellas in Glitterkleidern auf der Rückbank eines Pontiac singend über ein Fließband fahren, während Monteure noch die Reifen unter das Auto schrauben: Lean production für beschwingte Arbeitsbienen.

Firmenintern überwachte Gordy alle Prozesse. Selbst die Bands ließ er sich patentieren: Temptations, Supremes, Marvelettes und Miracles – jeder Name gehörte der Tamla-Motown-Corporation. Anstelle der frühen Songwriting-Talente seines singenden Zugpferds Robinson wurden bis zu acht Kreativteams für den formelhaften Sound von Motown angesetzt. Mitte der sechziger Jahre erinnerte die Studioarbeit in Gordys selbsternannter „Hitsville USA“ eher an den monotonen Produktionsalltag bei Walt Disney.

Ein Stamm von 52 Berufsmusikern spielte endlose Reihen von Instrumentals ein, über die mittlerweile achtzehn verschiedene Vokalgruppen und Solointerpreten ihre Melodien sangen, bis nach etlichen Aufnahmesessions die beste Fassung auf Platte gepreßt wurde. Aus diesem Grund konnte ein Song wie „I Heard It Through The Grapevine“ nacheinander von Smokey Robinson, Marvin Gaye und den Temptations veröffentlicht werden.

Für „Everybody Needs Love“ übernahmen Gladys Knight & The Pips 1967 die ein Jahr zuvor für die Velvettes eingespielte Begleitmusik vollständig – Songs, Stimmen, auch Stimmungen waren nach dem Prinzip eines Materiallagers praktisch austauschbar. Die Musik selbst war zu einem Standard geworden, dessen Warenförmigkeit auf wunderbare Weise die Attraktivität steigerte. Deshalb ist es weder der Sänger noch der Song, den man hört, sondern immer – Motown.

Auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung paßte alles zusammen: Detroit bildete den urbanen Hintergrund, vor dem Motown den Sound und die Mode des aufstrebenden Young America jenseits der Rassentrennung liefern sollte. Dafür beschäftigte das Label einen kompletten Stab an Lehrern, die aus einem Haufen unbedarfter schwarzer Teenies individuelle Persönlichkeiten formten: Smokey Robinson wurde zum schüchtern-entrückten Lover, Marvin Gaye zum eleganten Junggesellen, und Mary Wells glich in ihrer schönen Anmut einer Lehrerin, Martha Reeves gab mehr die derbe, doch verletzliche Verkäuferin von nebenan.

Die erfolgreichste Motown-Erfindung, Diana Ross & The Supremes, schien all diese Charaktere zu vereinen. Immerhin hatten die drei Sängerinnen jeweils einen Singing-, Acting-, Dressing-Coach und wurden darüber hinaus von einer Benimmlehrerin betreut, die ihnen ein damenhaftes Auftreten beibrachte. Weltgewandtheit als Spielart eines black glamour: Motown hatte dem schwelgerischen Doo-Wop von der Ecke eine schnittige Form gegeben, die schroffen Harmonien des Rhythm'n'Blues in weiche Akkorde aufgelöst und die Blue Notes aus dem Jazz in ein lebensbejahendes Dur verwandelt.

Daß sich darin auch Verzweiflung über die Wirkungslosigkeit von Pop entlud, mag einem federleichten Miracles-Song wie „I Gotta Dance To Keep From Crying“ von 1963 noch anzuhören sein. Trotzdem klang in der Trauer eine Begeisterung an – ein innerer Widerspruch, der der konstruierten Identität von Motown entsprach: War es wirklich nur Glück, jung, talentiert und schwarz zu sein? Oder erbarmungsloses Training?

Als es 1967 krachte, stand also auch Berry Gordy Jr. vor einer heiklen Situation: Sollte sein Label den Weg des Widerstands mitgehen und sich zum Sprachrohr der Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King machen? Man blieb zaghaft. Die Supremes sangen „Love Child“, ein Stück Sozialromantik aus dem Ghetto; die „Temptations“ ließen sich Afrofrisuren wachsen und veröffentlichten das überladene „Ball of Confusion“; die Jackson 5 bekamen zeitgleich zu den ersten Folgen der „Sesamstraße“ eine eigene Kindershow auf ABC.

Für die Dokumentarplatte einer Rede Matin Luther Kings gegen den Vietnamkrieg wurde Motown mit dem Grammy ausgezeichnet. Fast schien es, als könne jede Kritik die Erfolgsstory bloß weiterschreiben – mit „War“ von Edwin Starr stand am 19. August 1970 erstmals ein Protestsong auf Platz 1 der US-Charts.

Hollywood – dahin wechselte die Firma und damit kam der Einbruch von Motown. Das war 1972. Um seine Stars mit der Aussicht auf Filmrollen längerfristig zu binden, hatte Gordy die Geschäfte an die Westküste verlagert. Doch der Transfer mißglückte: Viele Musiker wollten ihre Wurzeln in Detroit nicht aufgeben und verabschiedeten sich von Motown. Andere, wie Kim Weston, hatten sich neben Diana Ross als Aschenputtel gefühlt und verbittert die Firma verlassen. Das Songwriter-Trio Holland/ Dozier/ Holland ging im Streit wegen ausstehender Tantiemen, über deren Klagewert von zwanzig Millionen Dollar noch heute vor Gericht verhandelt wird.

Bis auf Gladys Knight & The Pips haben diejenigen, die Motown den Rücken kehrten, nie wieder an die Erfolge von einst anknüpfen können. Weil der Nachwuchs irgendwann in den achtziger Jahren ausblieb, als Soulbands von Diskogruppen ersetzt wurden, kann sich Motown nunmehr lediglich über die Erfolge von Boyz II Men freuen – und über den sanften Schimmer der Erinnerung.

Ansonsten sitzt George Jackson, der im November 1997 zum Vorsitzenden der Motown Company gewählt wurde, in der New Yorker Dependance und starrt fassungslos auf die Karriere von Puff Daddy, der mit professionellem Unterhaltungsrap einen ganzen Konzern begründete, ohne Motown zu konsultieren. Berry Gordy lebt im kalifornischen Bel Air, einem der luxuriösesten Flecken der USA. Vor zehn Jahren hat er das Label für 61 Millionen Dollar an MCA verkauft. Jetzt genießt er die schöneren Dinge des Lebens. Am 28. November wird er siebzig Jahre alt.

Harald Fricke (35) taz-Kulturredakteur, verfügt über eine der besten Soulsammlungen des Kontinents und lebt in Berlin. Seine LieblingssängerInnen sind Minnie Riperton, Al Green, Joni Mitchell und die Beatles.