Von denen, die es wissen müssen

■ Seit drei Jahren arrangiert die Zeitzeugenbörse Kontakte zu denen, die dabei waren. Doch das Interesse an Maos Dolmetscher und anderen läßt nach. In der Kartei stehen nur noch 120 Personen

Nur wenige Menschen genießen das Privileg, die entscheidenden Persönlichkeiten ihrer Epoche aus der Nähe kennenzulernen. Der 72jährige Chinese Zhou Chun ist einer von ihnen. Zwischen 1949 und 1995 dolmetschte Zhou, der seit Ende der 80er Jahre in Berlin lebt, für Chinas Politgrößen, unter anderem auch für den Wegbereiter des langen Marsches, Mao Tse- tung.

Wie war Mao – rein persönlich zum Beispiel? „Am Anfang ein sehr netter Mensch, höflich und bescheiden“, erinnert sich Zhou. Doch die Aufbruchstimmung nach dem Sieg der Revolution habe nicht angehalten. Das habe sich vor allem in charakterlichen Veränderungen der Führerpersönlichkeit widergespiegelt. Zhou hat es am eigenen Leibe erlebt: „Als ,rote Sonne‘ verherrlicht, hielt Mao sich schließlich für allmächtig.“

Die persönliche Erfahrung mit Chinas großem Mann, Zhous Leidensweg als Verfolgter durch Arbeitslager und Gefängnisse, seine Rehabilitierung – all das ist in Berlin grundsätzlich für jedermann zugänglich. Denn Zhous Name steht in der Kartei der Berliner Zeitzeugenbörse, die Lebenswissen aus erster Hand vermittelt. Privatpersonen, politische Gruppen, Schulen und auch Medien können in dem Büro in der Eberswalder Straße anrufen und Leute einladen, die über historische Ereignisse aus eigener Erfahrung berichten, Leute, die dabei waren.

1995 wurde die Berliner Zeitzeugenbörse gegründet und war seitdem Vorbild für neun ähnliche Einrichtungen im Bundesgebiet. Doch inzwischen hat das Interesse für die Vermittlung historischen Wissens nachgelassen. „Die Börse ist so gut wie pleite“, sagt Unternehmensberater Wolf Hinsching. Auf Honorarbasis hält Hinsching den Laden derzeit noch in Betrieb.

Den Niedergang ausgelöst hat nicht zuletzt das Ausbleiben der anfangs großzügigen Förderung des Bundesbildungsministeriums. Wie üblich waren die Zuschüsse befristet und versiegten schließlich ganz. Die bezahlten Mitarbeiter der Zeitzeugenbörse verloren daraufhin ihre Jobs. Nur dank der größeren Spende eines Industrieunternehmens gibt es die Einrichtung heute überhaupt noch.

Allerdings vergaß man bei den Akquisiteuren der Geschichte aus erster Hand bisweilen eine andere Akquise – die der eigenen Finanzen. Erst jetzt versucht der Vereinsvorstand auf Anregung Hinschings, Schulen und Fernsehsendern Honorare in Rechnung zu stellen, wenn sie ZeitzeugInnen anfordern.

Das einstmals viel umfangreichere Archiv der Börse ist dementsprechend auf den Hund gekommen. Fand der Cursor auf dem Computer früher bis zu 300 Namen, sind heute noch etwa 120 Personen verzeichnet, Personen, die über den Faschismus, den Aufbau der DDR, die Nachkriegszeit oder auch Brasilien in den 20er Jahren berichten können. Denn weder zur Anwerbung neuer noch zur Vermittlung der vorhandenen ErzählerInnen unternimmt der Verein derzeit große Anstrengungen.

Wie Zhou Chun kommen deshalb viele erfaßte ZeitzeugInnen gar nicht in die Versuchung, ihre Erfahrung an wißbegierige Jüngere weiterzugeben. Im Falle des 68jährigen Gerhard Rietdorff war das allerdings anders. Denn Rietdorff beleuchtete in den 50er Jahren die Vorführungen im Berliner Ensemble und kam deshalb in den Genuß persönlicher Erklärungen, die Bertolt Brecht höchstselbst dem Personal zu seinen Inszenierungen zuteil werden ließ. Aus Anlaß des hundertsten Geburtsjahres des Begründers rissen sich Radio- und Fernsehredaktionen geradezu um den Bühnentechniker. Hannes Koch

Zeitzeugenbörse, Eberswalder Straße 1, 10437 Berlin, Tel. 44046378