"Auf Single-Länge eine Geschichte erzählen"

■ Ob mit oder gegen Adorno: Der gelungene Rocksong ist ein Minutenkunstwerk, das man nie wieder vergißt. Meint der Berliner Religionswissenschaftler Rudi Thiessen, dessen Standardwerk "It's Only R

taz: Sie beschreiben die Funktionsweise von Rock mit einem winterlichen Bild: Die Songs seien wie eine Mischung von Meditationsbild und Gebetskette, sie ließen einen „mit dem Kopf voller Schnee wippend durch den Tag stolpern“.

Rudi Thiessen: Das stammt aus einer der Passagen des Buches, in denen es den Tonfall der Musik treffen will. Es könnte sich selber um eine Rockzeile handeln, „den Kopf voller Schnee“. „Wippen“ auch, das ist eine Rockbewegung. Die Meditationsbilder meinen, daß die Zeilen den ganzen Tag im Kopf kreisen, daß man sie rhythmisiert, den Rhythmus im Kopf wiederholt. Es kommt zu der Erfahrung, daß man sich unterhält, und gleichzeitig hört man im Kopf das Lied.

Es gibt in Ihrem Buch auch Sätze mit weniger Drive, etwa: „Rock, der nicht Parodie auf sich selbst sein will, hat mit dem Unterleib zu harmonieren.“

Das meint, daß die Rhythmik im Rock immer sexuelle Konnotationen hat. Stark betont wie bei den Stones oder Lou Reed, weniger stark bei den Beatles. Das „hat zu“ ist sicherlich der damaligen Jugendlichkeit des Autors geschuldet. So würde ich heute nicht mehr schreiben.

Bezeichnet es nicht das Dilemma damaliger Rocktheorie, daß sie inhaltlich von Befreiung handelt und stilistisch zwischen Adorno und Verordnungsdeutsch schwankt?

Schreiben ist generell übersetzen von Erfahrung, produzieren von Erfahrung meinethalben. Warum man über musikalische Erfahrungen nicht reden oder schreiben können sollte, ist mir völlig unklar. Ich halte es für eine Unterwerfungsgeste, in dem Punkt immer das Dilemma in den Vordergrund zu stellen.

Musik wirkt eben unmittelbarer als Sprache.

Es gibt dieses berühmte Zitat: Über Rockmusik schreiben sei wie auf Architektur tanzen. Mit anderen Worten: geht nicht. Ich bin aber durchaus der Meinung, daß man auf Architektur tanzen kann. Das können Sie nun dadaistisch formulieren oder aus der Religionsgeschichte holen: Wenn die Menschen Sternbilder tanzen können, warum sollten sie nicht architektonische Formen in Tanzen übersetzen – gerade wenn man überlegt, wie nahe die Proportionenlehre der Architektur zur Harmonielehre der Musik ist. Im übrigen: Es ist sehr viel schwieriger, über eine Sinfonie zu reden oder über eine Improvisation von Coltrane als über Rockmusik. Häufig genug gibt es Texte, es gibt eine Weise, in der sie gesungen werden, die Musik wiederum ist zu diesem Text geordnet. Jimi Hendrix singt „Little Wing“ ganz anders als beispielsweise „Foxy Lady“.

Im Zentrum Ihrer Theorie steht der Begriff der Übersetzung. Rock sprudelt nicht einfach aus dem Körper, er ist immer schon Umschrift. Ähnlich wie beim Traum handelt es sich um einen Kompromiß von Wunsch und Bearbeitung.

Es gibt verschiedene Ebenen der Übersetzung. Die buchstäbliche, die der Erfahrung von Musik folgt, wenn sie beim Schreiben in Sprache übersetzt wird. Es gibt die Übersetzung, die Sie ansprechen, nämlich die Übersetzung von Regression, von sich artikulierender Triebmacht, aufgrund der Durcharbeitung, die der Rocksong darstellt; Rockmusik als Verarbeitung ist eben nicht nur ekstatisch, sondern auch bewältigend: Es werden Geschichten erzählt. Schließlich funktioniert der Übersetzungsprozeß auch als Kulturtransfer: Die Stones übersetzen sich die Musik der amerikanischen Schwarzen in den Städten in ihre eigene; erst aus dieser Übersetzungserfahrung heraus kommen sie in die Lage, ein Lied wie „I Can't Get No Satisfaction“ zu schreiben. Dieser Weg der Musik von den USA nach England und wieder zurück ist oft unterschätzt worden. Aber ohne ihn hätte Bob Dylan den Folk nicht hinter sich lassen und „Like A Rolling Stone“ schreiben können.

Sie nennen das Ergebnis „Minutenkunstwerk“.

Entscheidend ist, daß Rock in der Lage war, innerhalb von drei, vier, ursprünglich sogar bloß zweieinhalb Minuten, die traditionelle Single-Länge nämlich, eine Geschichte zu erzählen, und zwar so, daß man sie nie wieder vergißt. Die Konservativen würden sagen, das sind Schlagerproduktionsbedingungen, aber in dem Moment, wo ein Musiker es sich zur Aufgabe macht, innerhalb dieses Rahmens den Rahmen zu sprengen, die vollständige, bedeutende Geschichte inklusive der richtigen Instrumentierung und Stimmung zu erzählen, ist das eine Aufforderung zu einer ungeheuren Konzentration. Diese Kunst beginnt in den Siebzigern, mit der Langspielplatte, zu verfallen. In dem Moment, wo Pete Townshend plötzlich Zeit hat, in der Phase von „Tommy“ nämlich, hat er auf einem Doppelalbum vielleicht noch vier große Momente.

Erzählen im Rock hat bei Ihnen viel Verwandtschaft mit dem literarischen Erzählen.

Das ist meiner Überzeugung geschuldet, daß Rockmusik, wenn man sie ernst nimmt, auf dem Hintergrund der großen Literatur des Jahrhunderts zu interpretieren ist. Deshalb kommt in der Analyse Proust vor, kommt da Joyce vor. Avantgardistische Literatur enthält Erfahrungen, die mit einer gewissen Verspätung bei den Rockmusikern ankommt, dafür aber eine ganz anderes Publikum hat, eine ganz andere Rezeption erhält.

Warum braucht Rock so viel Aufwertung durch die Tradition? Auch mit dem vielen Adorno übernehmen Sie doch in der Argumentation Elemente dessen, wogegen Sie ankämpfen.

Da haben Sie ganz und gar recht. Es ist der Versuch, Adorno ins Bündnis zu nehmen, mit und gegen Adorno über Rockmusik zu schreiben. Gegen ihn, weil er diese Musik nie für philosophisch übersetzungsmächtig gehalten hätte, das sind ja höchstens Klischees aus seiner Sicht. Daß es nur mit Adorno ging – oder damals gehen mußte –, hat damit zu tun, daß zumindest ich Adornos Philosophie für die avancierteste hielt in Deutschland. Wenn Rockmusik nur Regressionsmusik gewesen wäre, Regressionszwang gar, dann hätte nach dem damaligen Sprachgebrauch die Musik faschistoide Züge gehabt. Und das wiederum wäre an die eigene Identität gegangen.

In den Sechzigern und frühen Siebzigern gab es den Konflikt zwischen Antiautoritarismus und Marxismus. War Adorno 1981 noch diese mächtige Autorität?

Ich bin nicht mal sicher, ob ich es heute anders machen würde. Weil ich die Philosophie, wie sie in der „Negativen Dialektik“ formuliert ist, wirklich nicht für veraltet halte. Gut, das obligatorische Kapitel über Rock als Ware würde ich heute kürzer und konkreter machen. Es ist der Teil, der am stärksten der marxistisch-akademischen Kritische-Schule-Diskussion der siebziger Jahre buchstäblich geschuldet ist. Ansonsten: Man kann andere philosophische Positionen einnehmen, keine Frage, aber die „Negative Dialektik“ bleibt mit ihrer radikal aufklärerischen Haltung ein Markierungspunkt.

Wissen Sie, warum Adorno über Jazz als Hektor Rottweiler geschrieben hat, unter einem Kampfhundnamen?

Ich weiß es nicht, aber er wählt tatsächlich einen Hundenamen, Hektor, den er kombiniert mit einer Hunderasse. Ich vermute, daß er zu der Zeit so arrogant war, daß er seinen Namen beziehungsweise den seiner Mutter, die Opernsängerin war, nicht durch das Thema beflecken wollte. Es gibt keinen anderen vernünftigen Grund.

Wie erklären Sie sich die relativ geringe Wirkungsgeschichte von „It's Only Rock'n'Roll“?

Das Buch war regulär auf dem Markt von etwa 81 bis 83, dann ging der Verlag ein. Es war also vergleichsweise kurze Zeit präsent. Das andere Problem war von Anfang an, daß selbst der durchschnittliche intellektuelle Rockfan sich gegen die Sprache oder das Analyseniveau des Buches wehrte. Der Normalfall war, daß man das, freundlich formuliert, unter Überinterpretation verbucht hat. Es ist ja auch wirklich kein leicht zu lesendes Buch, allerdings nicht absichtlich. Es kam halt so raus. Mit einer sehr großen Selbstverständlichkeit habe ich mich an ein philosophisch gebildetes Leserpublikum gerichtet. Das Buch hat sich in großartiger Ignoranz der Erwartungen zwischen alle Stühle gesetzt.

Was war der Impuls, es jetzt wiederzuveröffentlichen?

Ich war die ganze Zeit über traurig, daß es vergriffen war, bin aber nicht der Typ, der von Verlag zu Verlag hausieren geht. Glücklicherweise habe ich für mein jüngstes Buch, „Urbane Sprachen“, einen guten Verleger gefunden, dann kam die Idee, auch das andere wiederaufzulegen, und er hat's ja auch sehr gut gemacht. Der zweite Impuls: Jüngere Autoren wie Jean-Martin Büttner mit seinem „Sänger, Songs und triebhafte Rede“ bei Stroemfeld haben den Anspruch formuliert, das Buch zu Ende zu schreiben oder die ausführliche Version davon zu liefern. Da ist es doch hilfreich, den Originalkontext der Zitate nachlesen zu können.

Klingt das nach Kränkung? Der Gestus des Verkannten?

Nein, eher der Gestus dessen, der offenbar das, was er schreiben wollte, nicht richtig klar gemacht hat. Das ist ein Unterschied. Wenn die Schlüsselthese nicht ankommt, dann war sie entweder falsch, oder sie wurde nicht präzis genug rezipiert.

Vielleicht war die historische Konstellation einmalig.

Ganz sicher. Die Möglichkeit des Bruchs autoritärer Strukturen schien Anfang der Sechziger plötzlich da zu sein. Die Chance, Triebmacht zu verhandeln, war aber zugleich die Möglichkeit, sich auf unaggressive Weise auszuagieren. Die politische Linke hat Desintegration und Anomie angebetet, wo es nur ging. Und so lange die Jugend chronisch linksliberal war, war das auch kein Problem. Heute, wo einem die Desintegration in Form rechter Schläger begegnet, wird das Elend linker Kulturktritik erst richtig deutlich: Was diese dem Rock vorgeworfen hat, war exakt dessen zivilisatorische Leistung. Interview: Thomas Groß