Tigerfell als Lösungsmuster

■ Gelebt wird es vor der Haustür – unverschämt authentisch wurde „Das Wunder von Neukölln“ an der Neuköllner Oper uraufgeführt

Fast könnte man meinen, man hätte es mit einer blasphemischen Parodie auf die Weihnachtsgeschichte zu tun. Ein Kind wird geboren in einem Neuköllner Krankenhaus. Die Mutter Supermarktkassiererin, der Vater ein arbeitsloser Säufer. Das kleine Ding aber ist mongoloid und stürzt die alleinerziehende Janine ins Elend. Wäre da nicht ein ausgebuffter Fernsehfritze, der aus Mutter einen Star und eine Medienkampagne macht, und eine krebskranke Großmutter, die sich dank des mongoloiden Denis als geheilt betrachtet und der Welt via BZ verkündet: Mein Enkel kann Wunder vollbringen.

Um's gleich vorwegzunehmen: „Das Wunder von Neukölln“ (Text Peter Lund, Musik Wolfgang Böhmer) ist kein Weihnachtsmärchen und hat auch mit den Neukölln-Klischees, wie wir sie politisch verbrämt vom Spiegel oder, als Trash-Comedy verbraten, von der Teufelsberg Produktion her kennen, nur wenig zu tun. Als Sozialkomödie bezeichnet Lund selbst sein Stück, und das trifft es auch: „Das Wunder von Neukölln“ spielt direkt vor der Haustüre und ist dabei unverschämt authentisch in Sprache und Gestus, ohne von oben herab und nur mit ironisch-lästerndem Blick zu kommen. Die ausgesuchten Geschmacklosigkeiten, welche auf der Bühne zu sehen sind (Blümchentapeten, Tigerfell-Satin-Sofakissen) passen perfekt zu Leggins und Jogginghosen (Bühne: Dirk Immich, Kostüme: Nicola Wendt). Die Sprache der Menschen aus dem Neuköllner Kiez, der „kleinen Leute“, ist so direkt und unverstellt wie jene Sprechblasen der Medienfritzen mit ihrem Gutmenschen- Image. Peter Lund und der Neuköllner Oper gelingt, woran Grips Theater mit „Café Mitte“ und das Theater des Westens mit „30 60 90 Grad – Durchgehend geöffnet“ gescheitert sind: ein Musical, das wirklich die Stimmung eines Kiezes aufgreift, ohne in platte Sozialarbeiterromantik, verquälten Erklärungsdrang oder andererseits überheblichen Zeigefinger-Klamauk abzurutschen. „Das Wunder von Neukölln“ ist komisch und ergreifend zugleich. Diese Figuren leben und haben Format. Wie etwa – um nur zwei aus dieser Ensemblearbeit herauszugreifen – Gerd Lukas Storzers TV-Moderator Johannes Fonfara, der in Janine und ihrem Kind die Chance seines Lebens entdeckt, ist nie zu dick aufgetragen (also nie unglaubwürdig); oder Christiane Rothacker, die vom Kassiererinnen-Blondchen zur neuen Madonna aufsteigt. Ihre Mutterliebe ist echt, die (Sehn-) Sucht nach Geld aber auch. Dieser Zwiespalt droht sie zu zerreißen und macht zuletzt aus ihr doch eine starke, selbstbewußte Frau. Bernd Mottls Inszenierung verläßt sich zu Recht auf die Textvorlage und unterstützt mit kleinen, wunderbaren Einfällen und Pointen die satirischen Elemente des Stücks. Schade eigentlich, daß die Darsteller durch die Bank zwar großartige Schauspieler sind, aber weitgehend nur mäßige Sänger. Denn Wolfgang Böhmers Musik ist eine äußerst unterhaltsame Melange aus Operette, Pop, Musical und sogar Gospel mit durchaus ohrwurmtauglichen Songs, die von der sechsköpfigen Kombo unter Leitung von Hans-Peter Kirchberg sehr abwechslungsreich instrumentiert sind. Gleichwohl: „Das Wunder von Neukölln“, das steht schon fest, wird ein Hit. Axel Schock

Weitere Termine: vom 17.12. bis 20.12., Neuköllner Oper, jeweils 20 Uhr, Karl-Marx-Straße 131