Auf der anderen Seite des Vulkans

Der Erdrutsch an der Südflanke des Casitas-Bergzuges in Nicaragua war ein Medienereignis. Niemand interessiert sich für das Dorf an der Nordflanke, das von Hurrikan „Mitch“ verschüttet wurde. Hier herrscht Hunger  ■ Aus El Igueral Toni Keppeler

Aus der Ferne betrachtet macht es den Anschein, als strecke der Vulkan Casitas jedem, der sich nähert, die Zunge heraus. Dreckigweiß kommt sie aus dem Kraterschlund und wird nach unten immer breiter. Sie ist so lang, daß ihre Spitze fast die pazifische Tiefebene erreicht. Seit diese Zunge Ende September vier Dörfer und mehr als 2.000 Menschen begraben hat, wird der Casitas wahrgenommen.

Vorher stand er immer im Schatten seines Nachbarvulkans San Cristóbal. Denn der ist mit seinen 1.745 Metern nicht nur über 300 Meter höher als der Casitas. Er sieht auch aus wie ein Vulkan aus dem Bilderbuch. Ein klassischer schwarzer Kegel mit einem großen, fast kreisrunden Krater. Und manchmal steigt sogar Rauch auf. Die Hügelkette daneben ist eher unscheinbar und hat viele kleine Gipfel, wie eine ungeordnete Reihe von Dächern. Wegen dieser Form heißt das Massiv „Casitas“, die „Häuschen“. Die häßliche Zunge an der Südflanke hat den Berg berühmt gemacht.

Dort, wo es links der panamerikanischen Straße in Richtung Honduras vor ein paar Wochen noch vier Dörfer gab, liegt rechts der Ort Posoltega. Hier leben heute die wenigen Überlebenden des Erdrutsches in Notquartieren oder unter weißen Plastikplanen am Straßenrand. Posoltega hat in den letzten Tagen viel hohen Besuch bekommen. Der nicaraguanische Präsident Arnoldo Alemán ließ sich sehen und Oppositionsführer Daniel Ortega. Dazu kamen Minister und Ministerinnen, der spanische Thronfolger und Präsidentenehefrauen aus aller Welt. In ihrem Gefolge Dutzende von Fernsehteams. Doch in Posoltega endete der Katastrophentourismus im Gefolge des Hurrikans „Mitch“. Viel weiter ist kaum einer gekommen.

Die panamerikanische Straße führt hinter Posoltega in einem großen Halbkreis um den Casitas und den San Cristóbal herum. Um sich der Nordflanke zu nähern, biegt man irgendwann von der schon leidlich in Stand gesetzten Asphaltspur nach rechts ins Gelände ab. Hier beginnt die Hunger- Zone Nicaraguas.

Der Gestank kündigt die Kadaver von weitem an

Anfang November stand die ganze Ebene tagelang unter Wasser. Der Rio Tecolapa, an sich ein harmloses Rinnsal, schwoll unter den Regenmassen des Hurrikans zum gewaltigen Strom an. Von den Mangrovensümpfen an der Pazifikmündung im Golf von Fonseca staute das Wasser zurück.

Bis zu sieben Meter hoch stand das Wasser. Die Gegend wurde schon oft überschwemmt. Einen Meter vielleicht. Die Holzhäuser wurden deshalb auf Steinsockel gebaut, und an diesen Sockeln erkennt man heute, wo einmal ein Haus gestanden hat. Alles andere wurde von der Strömung oft kilometerweit fortgetragen. Kaum jemand fand Reste von dem, was einmal Wände oder Dach seines Hauses waren.

In weiten Teilen der Tiefebene um Chinandega standen vor dem Unwetter Viehherden auf den Weiden. Noch heute hängen die verwesenden Kadaver von ersoffenen Rindern und Pferden oben in den Bäumen, die dem Strom standgehalten haben. Man setzt sich dieser Horrorszene aus aufgedunsenen Leibern und herabhängenden Eingeweiden nur einmal aus. Beim zweiten Mal sieht man weg. Und man weiß genau, wann der nächste Kadaver kommt. Der Gestank kündigt ihn schon hundert Meter im voraus an.

Nur die Männer, die seit Tagen durch die jetzt trocknende Tiefebene ziehen, die gehen gezielt dorthin. Sie schütten Kerosin über die Kadaver und zünden sie an.

Wer so den Vulkan Casitas umkreist, stellt fest, daß der Berg mehr als nur eine Zunge hat. Auch am Nordhang hängt eine in die Ebene herunter. Und auch sie hat ein Dorf unter Schlamm und Geröll begraben. Aus der Nähe sieht sie so aus, als hätten Bulldozer das Gelände für eine riesige Landepiste vorbereitet und als müßten nur noch die mannshohen Felsbrocken weggeräumt werden, bevor die Teermaschinen kommen. Nichts konnte die Flutwelle aufhalten, als sie ins Tal stürzte. Das Dorf El Igueral war ihr im Weg. Die Massen aus Wasser und Schlamm, Geröll und entwurzelten Bäumen haben eine Schneise mitten hindurch geschlagen. Was abseits dieser Piste lag, versank im Morast. Nur hier und da ragt ein Dach aus Palmblättern aus der Erde.

Ein paar der stehengebliebenen Häuser werden schon wieder benutzt. Mit den Händen haben die Bewohner die feuchte Masse aus dem Inneren gegraben. Wer hinein will, muß eineinhalb Meter hinabsteigen. Was früher einmal ein Haus war, ist jetzt eine Erdkuhle mit Strohdach. Aber immerhin: Es ist eine Behausung. Der Erdrutsch von El Igueral war der nicaraguanischen Presse keine Zeile wert. Nur in den nächstliegenden Weilern hat man davon gehört. Jahrelang schon interessiert sich niemand mehr für El Igueral. Und schließlich gab es auch keine Toten.

In dem entlegenen Dorf kam die Flut am Tag

„Wir hatten ein gottverdammtes Glück, daß alles bei Tag passiert ist“, sagt Domingo Rivera. Der kleine, hagere Mann mit dünnem Schnauzer ist so etwas wie der Älteste im Dorf. Auf jede Frage muß er die Antwort geben. „Es hatte schon drei Tage lang geregnet und der Fluß war gefährlich angestiegen. Alle zwei Stunden bin ich hinüber und habe nachgeschaut. Aber nachts um zwei sah es so aus, als würde das Wasser weniger. Ich habe mich beruhigt schlafen gelegt.“

Die erste Flutwelle kam morgens um halb acht. Es war nur Wasser, aber es stieg so schnell, daß es Domingo Rivera, kaum daß er aufgestanden war, schon bis zur Hüfte reichte. „Wir haben schnell alle hinüber gebracht zu dem Damm dort, weil das die höchste Stelle ist. Ein Kind wurde von den Fluten fortgerissen. Aber einer der Männer konnte es weiter unten aus dem Wasser ziehen.“ Nachmittags um halb fünf kam dann die zweite, viel gewaltigere Welle aus Schlamm, Geröll und fortgerissenen Bäumen.

Schon vor Wochen haben die Leute aus El Igueral festgestellt, daß oben am Casitas Quellen entstanden sind, die es vorher nicht gab. Der Berg habe in den vergangenen Monaten oft gezittert und gebebt. Sie glauben, daß dies die Ursache der Quellen ist. Ein kleinerer Erdrutsch habe wohl in Gipfelnähe einen Wall gebildet und das Quellwasser aufgestaut. So lange, bis der Damm brach und alles ins Tal stürzte. Eine ähnliche Theorie vertreten Schweizer und US-amerikanische Geologen, die den Erdrutsch auf der anderen Seite des Casitas untersucht haben. Im Abschlußbericht der Wissenschaftler heißt es, so etwas könne jederzeit wieder passieren. Und es wird wieder passieren, sagt Domingo Rivera. „Ich habe da oben einen Damm gesehen, und dahinter staut sich ganz langsam das Wasser. Das ist so heiß, da kann man nicht reinfassen. Ich gehe da nicht gerne hin. Das macht mir Angst.“

Rein materiell betrachtet haben die Bewohner von El Igueral nicht viel verloren. Nur im Korridor des Erdrutsches wurden die Häuser weggefegt. Die anderen Hütten und die Habe lassen sich ausgraben. Die Bäume, die mit dem Schlamm den Casitas herunter kamen, liefern genügend Baumaterial für Reparaturen. Keine Ernte wurde vernichtet, denn in El Igueral erntet schon lange niemand mehr.

Die Regierung hilft jenen, die sie wählen

Früher arbeiteten die Männer auf den Baumwollfeldern und den Bananenplantagen der Umgebung. 1990 war das vorbei. Die Sandinisten verloren die Wahl. Die staatliche Baumwollplantage wurde wieder privatisiert, die Produktion eingestellt. Gleichzeitig nämlich drängten die Baumwollproduzenten der Länder der ehemaligen Sowjetunion auf den Weltmarkt. Der Preis sackte nach unten, die Produktion in der Tiefebene von Chinandega war nicht mehr rentabel. Auch die größte Bananenplantage der Gegend liegt heute brach. Der Besitzer hat kein Interesse an der Produktion.

Wenn es noch Arbeit gibt, dann auf den Erdnußfeldern, die in den vergangenen Jahren angelegt wurden. Doch die Erdnußproduktion in Nicaragua ist kapitalintensiv. Großbetriebe bearbeiten die Pflanzungen vorwiegend maschinell. Man braucht nur wenige Landarbeiter, und das nur zwei Monate im Jahr. „Den Rest des Jahres“, sagt Rivera, „sitzen wir mit verschränkten Armen da. Ab und zu erwische ich einen Leguan oder ziehe einen Fisch aus dem Fluß. Dann kann ich meinen Kindern vortäuschen, wir hätten etwas zu essen. Wir haben schon Hunger gelitten, bevor der Schlamm über uns kam.“

Früher, zur Zeit der Sandinisten, da sei es besser gewesen. Da wurde noch Baumwolle produziert, und „wenigstens ein paar Männer im Dorf hatten einen garantierten Arbeitsplatz“. Jetzt aber müßten sie darunter leiden, daß sie sandinistenfreundlich sind. Präsident Arnoldo Alemán schickt Hilfslieferungen lieber Gemeinden, in denen seine Liberal-Konstitutionalistische Partei die Mehrheit hat. „Hier hat sich noch niemand von der Regierung sehen lassen.“ Nur ein paar soziale Organisationen seien eher zufällig vorbeigekommen und hätten ein bißchen Reis und Bohnen dagelassen. „Aber das reicht hinten und vorne nicht.“

Auch in Zukunft kann El Igueral von der Regierung nichts erwarten. Der Notstand nach der Katastrophe ist schon wieder aufgehoben. Und als die Gemeindeverwaltung im nahen Posoltega Anfang der Woche um mehr Lebensmittellieferungen, Medizin und psychologische Hilfe für die Obdachlosen nachfragte, hatte Alemán nur Zynismus übrig. Nach einer Messe für die Opfer des Hurrikans sagte er, er werde keinen mehr als Unwettergeschädigten anerkennen, der sich nicht freiwillig für die jetzt beginnenden Kaffee-Ernte im Norden des Landes melde. „Die sollen arbeiten und sich ihr Essen verdienen. Dann werden sie das Trauma des Erdrutsches schon vergessen.“

In El Igueral kam die Botschaft nicht an. Niemand denkt daran, in den Norden zu gehen. Es gibt noch genügend zu tun im Dorf. Viele Häuser müssen noch ausgegraben werden. „Wenn uns wenigstens jemand ein paar Matratzen bringen würde“, sagt eine Frau. „Wir schlafen auf der nackten Erde.“

Doch immerhin: Sie schlafen auf der Erde. „Wenn die Schlammlawine in der Nacht gekommen wäre“, sagt Rivera, „dann lägen wir jetzt alle tot darunter.“ Dann wären der Präsident und der Oppositionsführer, der spanische Thronfolger und die vielen durchreisenden Minister und Präsidentenehefrauen auch nach El Igueral gekommen. Doch der Schlamm kam bei Tag. In der darauffolgenden Nacht rutschte die Südflanke des Casitas ab, verschüttete vier Dörfer und mehr als 2.000 Menschen. Und deshalb weiß niemand, daß es auf der anderen Seite des Vulkans ein Dorf mit dem Namen El Igueral gibt.