Das Vorbild ist schwer zu kopieren

Das niederländische „Poldermodell“ mit seiner geringen Arbeitslosenquote gilt als Beispiel für ein Bündnis für Arbeit. Doch übertragbar auf Deutschland ist es kaum  ■  Von Beate Willms

Berlin (taz) – Die deutschen Arbeitgebervertreter haben sich längst vor Ort umgesehen, ebenso die Gewerkschaften, und gleich nach seiner Wahl eilte Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) ebenfalls in die Niederlande. Alle zeigten sich angetan von der Wirtschaftspolitik und den Arbeitsmarktmodellen des Nachbarlandes beziehungsweise von den unschlagbar guten Zahlen – das Haushaltsdefizit beträgt 1,4 Prozent, die Arbeitslosenrate laut Regierung 3,9 und laut OECD immerhin noch 6,2 Prozent. Und alle bewegte die eine Frage: Kann das niederländische „Poldermodell“ ein Vorbild für Deutschland, für ein neues Bündnis für Arbeit sein, über das ab nächster Woche verhandelt wird?

Die Niederländer haben sich seit Anfang der 80er Jahre aus einem Teufelskreis herausgearbeitet: Das Haushaltsdefizit war von einem auf sechs Prozent gestiegen. Hohe Sozialausgaben und hohe Steuern ließen die Arbeitskosten steigen. Die Gewinne der privaten Wirtschaft sanken fast auf null, jährlich verschwanden bis zu 100.000 Arbeitsplätze. Die Arbeitslosigkeit erreichte Rekordwerte um 20 Prozent.

Einen Vergleich zur aktuellen Lage in Deutschland halten niederländische Experten allerdings für „vollkommen unverhältnismäßig“. „Deutschland steht viel besser da als die Niederlande damals“, erklärt Arbeitsminister Klaas de Vries. Außerdem habe die traditionelle Industrie in den Niederlanden keine so große Bedeutung, so daß die sozialen Folgekosten des Übergangs zur Dienstleistungsgesellschaft leichter zu finanzieren seien. Das Poldermodell könne also nicht so einfach übertragen werden. „Die kulturellen Unterschiede sind auch zu groß“, so de Vries. „Wir haben die Klassenkampfebene längst verlassen. Die Kinder von Unternehmern sind heute Arbeiter und die von Arbeitern Unternehmer. Was soll man da unüberwindbare Gegensätze aufbauen?“ Auch R.A.C. Blijleven vom Verband der niederländischen Industrie (VNO) sieht „ein viel besseres Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften“. Und Jeroen Sprenger, Vorsitzender des niederländischen Gewerkschaftsbundes FNV, schlägt vor: „Jedes Land muß sein eigenes Modell entwickeln. Man muß sich auf die vielleicht 80 Prozent konzentrieren, in denen man sich einig ist.“

Das taten die Niederländer: Gewerkschaften und Arbeitgeber setzten sich 1982 zusammen, als die Steuerlast bei 55 Prozent, die Gesamtausgaben des Staates bei über 60 Prozent des Inlandsproduktes angekommen waren und die Arbeitslosigkeit sich binnen weniger Jahre verdoppelt hatte. Im Abkommen von Wassenaar verständigten sie sich darauf, die bis dato teilweise zweistelligen Lohnsteigerungen zu begrenzen und die Arbeitszeiten zu verkürzen. Gleichzeitig begann die damalige christlich-liberale Regierung unter Ministerpräsident Ruud Lubbers mit einer Strukturreform, die zunächst drastisch vor allem bei den Lohnersatzleistungen und den Gehältern im öffentlichen Dienst sparte und das Land gleichzeitig für Unternehmen interessant machte: Die Körperschaftssteuer für Unternehmen mit einem Jahresgewinn von über 225.000 Mark sank von 48 auf 42 und 1989 auf 35 Prozent. Auch Auslandstöchter können den günstigen Tarif nützen, wenn sie ihre Gewinne an den niederländischen Mutterkonzern überweisen.

Bei den Einkommenssteuern führte die Regierung 1990 ein Dreistufenmodell ein, das den Eingangssteuersatz auf 37,3 Prozent, die zweite Stufe auf 50 und der Spitzensteuersatz – der zuvor 72 Prozent betrug – auf 60 Prozent festlegte. Die Mehrwertsteuer wurde von 20 auf 17,5 Prozent reduziert. Damit einher gingen allerdings Kürzungen von staatlichen Subventionen und Sozialhilfe – Jugendliche unter 21 Jahren erhielten das Recht auf einen Ausbildungsplatz, haben aber keinen Anspruch mehr auf staatliche Stütze. Die Ladenöffnungszeiten wurden ausgeweitet, Kündigungen und befristete Arbeitsverhältnisse erleichtert.

Im vergangenen Jahr durchleuchtete das Finanzministerium die Bemessungsgrundlage, schaffte Abschreibungsmöglichkeiten ab, stopfte Schlupflöcher und forcierte die Bekämpfung von Steuerhinterziehung. Hinzu kam eine Ökosteuer auf Strom und Gas, mit der vor allem private Haushalte und Unternehmen mit niedrigem Energieverbrauch zum Sparen angehalten werden sollen. Über eine Erhöhung des Spritpreises, so Marcel H.C. Lever vom Finanzministerium, wird noch diskutiert: „Denkbar ist eine ähnliche Größe wie die sechs Pfennig in Deutschland.“

Die Erfolge und Folgen des konsequenten Umbaus der Wirtschafts- und Steuerpolitik sind längst zu sehen. Sie bestehen nicht nur darin, daß sich verstärkt internationale Unternehmen im Polderland ansiedeln. Das Wirtschaftswachstum liegt heute bei 3,6 Prozent. Die Arbeitslosenquote wird laut OECD im kommenden Jahr sogar auf 5,6 Prozent sinken, das liegt wesentlich unter den Prognosen für Deutschland (11,1), Frankreich (12,6) und Italien (12,1) – offiziell gibt es in den Niederlanden nur rund 450.000 registrierte Arbeitslose.

Etwas anders stellt sich die Situation jedoch dar, wenn man die sogenannte stille Reserve mitzählt. Nach OECD-Zahlen sind in den Niederlanden gerade mal 63,8 Prozent aller Erwerbsfähigen am Arbeitsprozeß beteiligt. Zum Vergleich: Der EU-Durchschnitt liegt bei 66,4, der der OECD bei 70,6 Prozent. Das liegt daran, daß ganze Gruppen bislang nicht von dem Poldermodell profitiert haben: So sind aufgrund von inflationären Frühverrentungsangeboten nur noch 42 Prozent der Menschen zwischen 55 und 59 in Arbeit, bei denen zwischen 60 und 64 Jahren sind es sogar nur elf Prozent. Auch bei Nichtniederländern liegt die Arbeitslosenquote bedeutend höher – im Durchschnitt bei 16 Prozent. Besonders schwer haben es Türken, von denen jeder dritte ohne bezahlte Beschäftigung ist, und Marokkaner, bei denen es jeden vierten trifft.

Hinzu kommt eine hohe Zahl an sogenannten Berufsunfähigen, die zum größten Teil in den 80er Jahren bewußt vom Arbeitsmarkt genommen wurden. Dagegen haben sich die Beschäftigungsmöglichkeiten für Frauen verbessert. Viele von ihnen drängten erst durch die besseren Möglichkeiten der Teilzeitarbeit auf den Arbeitsmarkt – und durch die niedrigeren Einkommen ihrer Männer.