Geburtstag in der geteilten Stadt

Normalerweise ist der Geburtstag des chilenischen Ex-Diktators Augusto Pinochet für die Angehörigen seiner Opfer kein Grund zum Feiern. Diesen Mittwoch schon  ■ Aus Santiago Ingo Malcher

Eine enge Reihe berittener Polizisten sichert die breite Zufahrtsstraße zur britischen Botschaft in Santiago. Dahinter sind Sperrgitter aufgestellt, und in der Ecke steht ein olivgrüner Wasserwerfer, bei dem die roten Warnlichter blinken. Die Botschaft ist weiträumig abgesperrt, schon seit dem 16.Oktober, als der chilenische Ex-Diktator Augusto Pinochet in London festgenommen wurde.

Das Viertel, in dem die britischen Diplomaten hausen, ist ein edles, ruhiges Wohnviertel. Die Hausbesitzer verstecken ihre Anwesen hinter hohen Mauern. Die Hochhäuser, die sich zwischen die kleinen Einfamilienhäuser gedrängt haben, empfangen Besucher mit goldfarbenen Türgriffen und uniformierten Wächtern.

Einen solchen Auflauf ist man hier nicht gewohnt. Rund 300 Pinochet-Anhänger sind nach der Entscheidung der britischen Lords, mit der die Festnahme des Ex-Generals in London für rechtmäßig erklärt wurde, in Richtung der Botschaft Großbritanniens gezogen, um Radau zu machen. „Befreit Pinochet“, steht in riesigen Lettern auf einem Transparent, das fast so breit ist wie die Straße. Überall wimmelt es von rotweißblauen chilenischen Fahnen. Pinochet-Portraits werden in die Höhe gehoben. „Engländer, ihr seid Piraten, gebt uns den netten Alten zurück“, tönt es.

Für die eher Unfeinen unter den Pinochet-Anhängern sollen die „Engländer ihre Scheißmutter ficken“, die mit etwas mehr Benimm behaupten, daß „Spanier und Briten keine Hoden haben“.

Die Pinochet-Anhänger konnten ihren Haß nach der Entscheidung der Lords nicht bremsen, einige forderten im Wahn, sofort die Botschaft anzuzünden. Doch da war kein Durchkommen. An der Absperrung rangelten sich Pinochet-Freunde mit der Polizei, die die Gemüter mittels Wasserwerfern kühlte. Selbst etwa 60jährige Frauen warfen mit Ziegelsteinen nach den Polizisten.

Am anderen Ende der Stadt, in dem Innenhof eines schmucken alten Hauses, erholen sich die Aktivisten der Organisation der Angehörigen der Verschwundenen der Militärdiktatur von den Anstrengungen der letzten Wochen. Viele ältere Frauen träumen vor sich hin. An ihre Blusen haben sie Schwarzweißbilder mit Gesichtern geheftet. Darunter steht der Name des Abgebildeten, sein Geburtsdatum – und das Datum, wann er zum letzten Mal lebend gesehen wurde.

„Wenn wir noch vor kurzem zu jemandem gesagt haben, daß wir einen Prozeß gegen Pinochet wollen, wurden wir komisch angesehen“, erzählt Viviana Diaz, Vizepräsidentin der Angehörigen- gruppe stolz. „Ich bin unheimlich zufrieden mit der Entscheidung. Wir haben so sehr gehofft, daß die Lords Pinochet nicht laufenlassen, daher haben wir ihnen auch Briefe nach Großbritannien geschickt“, sagt Viviana Diaz.

Die große Frau mit dem rundlichen Gesicht sieht erschöpft aus. Immer wieder reibt sie sich die Augen. Sie sitzt in einer kleinen Kammer im Büro ihrer Organisation, die weiße Farbe blättert an manchen Stellen langsam ab. An der Wand ist ein riesiger Schimmelfleck, wohl von einem Wasserschaden. Tag und Nacht haben die Angehörigen in den letzten drei Wochen hier verbracht. An einer Tafel sind mit Filzstift die Faxnummern sämtlicher wichtigen britischen Tageszeitungen notiert. 20 Tage lang haben die Menschenrechtler in ihrem Büro nachts eine Mahnwache gegen die Freilassung Pinochets gehalten. Das Motto: „Eine Nacht ohne Träume, damit die Menschheit ruhig schlafen kann.“

Von einem Schwarzweißfoto in dem engen Raum winkt der von Pinochet aus dem Amt geputschte sozialistische Präsident Salvador Allende vergnügt herab, hinter ihm eine große chilenische Fahne. „Wir haben jetzt zum ersten Mal die Hoffnung auf Gerechtigkeit“, sagt Viviana Diaz. „Aber wir wollen keine Rache, nur Gerechtigkeit“, fügt sie schnell hinzu.

Am 11.September 1973 verschwand der damals 56jährige Vater von Viviana Diaz, Victor Diaz Lopez. Er war unter der Allende- Regierung Funktionär des Gewerkschaftsverbandes und Subsekretär der Kommunistischen Partei (PC). Als Viviana Diaz, ihre Mutter und Schwester von der Festnahme des Vaters erfahren, versuchen sie alles, um ihn zu finden. Aber nie erhalten sie bei der Polizei eine Antwort, wo er sei. „Niemals dachten wir, daß er verschwinden würde, wir haben immer geglaubt, daß er einfach nur festgenommen worden sei und dann irgendwann wieder rauskommt.“ Sie sahen ihn nie wieder.

„Mein Vater bleibt für mich präsent“, schildert Viviana Diaz und reibt sich erneut die Augen. Vor etwa einem Jahr starb auch ihre Mutter, „was sehr schwer war, denn wir haben viel zusammen gekämpft, aber es gab eine Beerdigung. Das habe ich bei meinem Vater nicht, er ist weiterhin für mich verschwunden.“ Wohin er verschleppt wurde, wer ihn ermordete, all das weiß Viviana Diaz nicht.

Als es in Spanien Aussicht auf einen Prozeß gegen Pinochet gab, schickten die Angehörigen der Verschwundenen Berge von Material zu ihrem Rechtsanwalt nach Madrid. Große Teile der Ermittlungen des Richters Baltasar Garzón, der den Auslieferungsantrag im Falle Pinochet an Großbritannien unterschrieben hat, fußen auf diesem Material. „Nie hatten wir Haß oder haben Haß geschürt, wir waren nie gewalttätig“, betont Viviana Diaz, „wir waren nur da, mit den Fotos unserer Familien.“ Die Angehörigen glauben, daß es eine Liste gibt, wo die Leichen ihrer Lieben verscharrt wurden und in welchen Gefängnissen sie waren. Sie wollen wissen, wo ihre Väter, Mütter und Kinder hingekommen sind.

Vor dem Sitz der „Stiftung Augusto Pinochet“ im noblen Vitacura-Viertel im Osten Santiagos hatte man für den geliebten Ex- Diktator eine große Geburtstagsfeier zu seinem 83. vorbereitet und fest mit seinem Kommen gerechnet. Vor der Stiftung, die sich zum Ziel gesetzt hat, das „Werk Pinochets zu schützen“, ist eine kleine Bühne aufgebaut, ein Transparent hofft auf „Langes Leben für Pinochet“. In der exklusiven Villa der Stiftung steht eine dicke zweistöckige weiße Torte mit weißem Zuckerguß, auf die mit roter Lebensmittelfarbe die Zahl 83 gemalt wurde. Aber zum Feiern ist in der Villa mit dem beigen Teppichboden niemandem zu Mute. „Wir feiern heute keinen Geburtstag, der Tag ist nicht danach“, gibt Luis Cortes Villa, Präsident der Pinochet-Stiftung knapp zu Protokoll.

Vor der Villa können sich die dennoch geladenen Festbesucher noch mit der standesgemäßen Garderobe eindecken. An einer Wäscheleine zwischen zwei Bäumen hängen T-Shirts mit dem fetten Aufdruck: „Ich liebe Pinochet.“ Für runde 30 Mark wechselt eines der Hemden den Besitzer. Durch einen breiten Eingang gelangen Besucher in den großen mit tropischen Pflanzen angelegten Garten der Villa, über einen Teich müssen sie dann über die Terrasse in das Haus steigen. Zum Geburtstagsfest reihen sich die ehemaligen Kampfgefährten zur Unterdrückerparade ein, keiner ließ es sich nehmen zu erscheinen. In dem Oberschichtviertel läßt sich gut leben, eine Villa steht neben der anderen, der Weg dorthin geht vorbei an verspiegelten Büropalästen im Stile Chicagos. Unweit der Stiftungsvilla fließt der Mapocho-Fluß vorbei, in dem nach dem Putsch die Leichen von Oppositionellen vorbeitrieben.

Davon will die kroatischstämmige Pressefrau der Stiftung, Magaly Yakcich, nichts wissen. Für sie hat Pinochet ein zerstörtese Land wiederaufgebaut. Die Entscheidung der britischen Lords traf sie wie ein Schock. „Niemals haben wir daran gedacht, daß so etwas möglich wäre“, gesteht sie ein. Schuld an der verzwickten Lage des Generals ist für sie die Linke, „denn der Haß der Linken geht über Generationen“. Und darüber hinaus habe die chilenische Linke eine verlogene Taktik. „Sie machen aus ihren Toten ein Politikum, sie nutzen die Toten aus.“ Und schnell packt sie eine vorbeilaufende junge Frau am Arm und zieht sie zu sich heran: „Sie hat ihren Vater verloren, er war Soldat und kam bei einem Attentat ums Leben. Auch auf unserer Seite gab es Tote.“ Eine Zahl hat sie nicht. Zudem würde immer verschwiegen, „daß viele der als verschwunden geltenden Menschen heute noch leben und arbeiten“. Wie viele und wer das sein soll, weiß sie nicht, versichert aber, daß es „viele sind“.

An Pinochets Geburtstag pflegte sonst die Militärkapelle vor dem Präsidentenpalast La Moneda, mitten im Zentrum von Santiago, bei der Wachablösung „Lili Marlen“ zu spielen, eines der Lieblingslieder Pinochets und irgendwie passend zur chilenischen Armee, die bis heute mit deutschen Wehrmachtshelmen paradiert. Diesmal nicht.

Vor dem Präsidentenpalast, in dem sich Salvador Allende am 11.September 1973 das Leben nahm, parkten in diesem Jahr gepanzerte olivgrüne Polizeiwagen, vollgepackt mit Tränengasgranaten. Am Nachmittag nach dem Urteilsspruch eilte eine Delegation der beiden rechtsextremen Parteien Unabhängige Demokratische Union (UDI) und Nationale Erneuerung (RN) in den Palast, um Präsident Eduardo Frei zu sagen, was er jetzt zu tun habe. Dieser dachte allerdings gar nicht daran, die Vasallen Pinochets zu empfangen, was sie noch wütender machte, als sie unverichteter Dinge wieder abziehen mußten.

Frei ließ sich lange Zeit, um die Entscheidung auf einer Pressekonferenz in der Moneda zu kommentieren. „Wir haben immer mit aller Kraft die Immunität von Senator Pinochet verteidigt“, sagt Frei. Und machte klar, daß er das auch in Zukunft zu tun gedenke, denn er wird seinen Außenminister José Insulza nach London und Madrid schicken, damit er den chilenischen Standpunkt deutlich macht, daß Pinochet nach Chile zurück muß. Eine absurde Situation: Der Sozialist Insulza wurde während der Diktatur von Pinochet aus dem Land gejagt – jetzt muß er ihn holen.

Um den vorläufigen Sieg zu feiern, zogen am Abend des denkwürdigen Tages Menschenrechtler und Linke unter Führung der KP- Vorsitzenden Gladys Marín durch Santiago. Obwohl die Demonstration erlaubt war, dauerte es nur kurze Zeit, bis die Polizei mit ihren uralten, extrem martialisch anmutenden Wasserwerfern auf die Demonstranten losging. Der dicke Wasserstrahl erwischte alle, ob junge oder alte Demonstranten, Passanten im Bürodreß mit Anzug und Krawatte oder Journalisten. Da den Wassertanks ein Tränengas beigemischt wird, brennt nach dem Wasserwerferbeschuß die ganze Haut wie Feuer.