Die Menschen, die vor den Menschen kamen

■ Unter dem Titel „Vergessene Welten unter Schnee und Eis“ stellt das Übersee-Museum die Vor-Eskimo-Kultur der Dorset und deren faszinierende Kunstwerke aus dem äußersten Norden Kanadas vor

Diese Menschen hätten im Fernsehen auftreten können. „Wetten, daß Yannuk Tunit es schafft, auf einem stecknadelkopfgroßen Stück Knochen die Gesichter seiner Familie, das Bild der Erde und die Bevölkerung eines arktischen Zoos einzuschnitzen.“ Doch leider ist Yannik Tunit schon tot. Mindestens 900 Jahre. Vielleicht auch schon viel länger. So genau weiß man das nicht. Aber die Wette hätte Tunit auf jeden Fall gewonnen, wie jetzt unter dem Titel „Vergessene Welten unter Schnee und Eis“ anhand zahlloser steck- und stricknadelkopfgroßer sowie fingernagelkleiner Stückchen Knochen und Holz im Übersee-Museum zu bestaunen ist.

Tunit nennen die Inuit, also die Eskimos, ihre Vorfahren. Genauer gesagt, sie erzählen sich von Generation zu Generation weiter: „Vor uns waren Menschen da, die das Land für uns bestellten.“ Bis in die Gegenwart nutzten die Eskimos uralte Steinwälle, die diese Menschen irgendwann aufgebaut hatten, um Karibous beim Jagen in die Enge zu treiben. Doch wie immer in der Oral history sind Widersprüche Teil der Überlieferung: Mal sprechen die Inuit im Norden Kanadas von ihnen als starke und mal als schwache, mal als große und mal als kleine Menschen, und sie werden damit Recht haben. Denn die Tunit, die von der Völkerkunde westlicher Prägung nach einem Fundort Dorset-Kultur oder Paläo-Eskimos genannt werden, waren stark genug, um in einer der kältesten Regionen der Erde zu überleben. Aber sie waren zugleich zu schwach, um ihre Kultur gegen nachwandernde Menschen zu behaupten. Als sogeannte Pre-Dorset-Kultur hinterließen die Tunit im zweiten vorchristlichen Jahrtausend ihre Spuren im Norden Kanadas, wo John Franklin und seine Begleiter viel später nach der Nordwest-Passage suchten. Die Dorset-Kultur bestand zwischen 1.000 vor und 1.000 nach Christus und verschwand in den Jahrhunderten danach oder ging in der Eskimozivilisation auf.

„Ihre Spuren sind noch heute überall zu finden“, sagt die kanadische Archäologin und Kuratorin der Ausstellung, Patricia Sutherland. Manchmal tauchen im schmelzenden Schnee und Eis Steinwälle und -türmchen auf. Dank der buchstäblich arktischen Temperaturen finden die ArchäologInnen auch jahrtausendealte organische Gegenstände in gut erhaltenem Zustand. Doch erst nach Grabungen der letzten Jahre ergab sich nach Auffassung des Tübinger Völkerkundlers Hansjürgen Müller-Beck das Bild „der höchsten und differenziertesten Steinzeitkultur, die wir kennen“.

Die aus Kanada übernommene und in Deutschland voraussichtlich nur in Bremen zu sehende Ausstellung mit dem schönen Originaltitel „Lost visions, forgotten dreams“ macht diese These plausibel. Im Sonderausstellungsraum des Museums am Bahnhofsplatz vermitteln großformatige Fotos und Dioramen von Landschaften zunächst arktische Atmosphäre. Eine typische Ausgrabungsstelle ist nachgebaut und auf dem Weg durch die Schau zu sehen, bis der Rundgang vorbei an Werkzeugen zur eigentlichen Schatzkammer der Ausstellung führt. In einem achteckigen Vitrinenkasten ist eine Miniaturwelt zu entdecken, die mit ihrer künstlerischen Kraft vieles andere in den Schatten stellt.

Für die Menschen der Dorset-Kultur muß neben einer ausgeprägten Naturmystik auch die Kunst ein Überlebensmittel gewesen sein. „Die Dorset-Leute kannten offenbar keine scharfen Grenzen zwischen Tier und Mensch“, weiß Müller-Beck. Noch heute glauben die Eskimos an die Wiedergeburt und daran, daß die Seele sich aussuchen kann, ob sie als Mensch, Eisbär oder Wolf wiederkommt. Auch die Dorset-Menschen müssen ähnlich gedacht haben. Bis ins kleinste Detail filigrane Schnitzarbeiten von Wesen, die halb Wolf, halb Mensch sind, belegen das. Andere Wesen haben die Körperform eines Eisbärs und die Gesichtszüge eines Menschen. Einfach faszinierend sind das handwerkliche Geschick und die Genauigkeit der Beobachtungsgabe, mit der die Dorset-Leute ihre Umwelt darstellten. Sie kannten zwar auch Hieroglyphen, doch mit ihren aus Knochen und Holz gefertigten Artefakten gaben sie ihre Vorstellungen von Religion und ihr Wissen weiter. In diesen Darstellungen von Halbmenschen und Tieren, den Portraits und anderen Miniaturen dieser „Schatzkammer“ kann man förmlich versinken. Dazu gesellt sich Respekt, wenn man erfährt, daß diese Menschen kein Metall kannten, sondern ihre großartige Kunst nur mit Steinwerkzeugen herstellten.

Christoph Köster

„Vergessene Welten unter Schnee und Eis“ bis zum 14. März im Übersee-Museum; Eröffnung am Sonntag, 29. November, 11 Uhr; Programm mit Vorträgen und einer Arktisfilmnacht im CinemaxX ist im Museum erhältlich