Santiago zwischen Jubel und Haß

Beim Stand von zwei Stimmen für und zwei Stimmen gegen die Rechtmäßigkeit der Festnahme Augusto Pinochets halten sich die Mitglieder der Organisation der Angehörigen der Verschwundenen in Santiago nervös an den Händen. Sie haben sich im Innenhof ihres Büros in Santiago de Chile versammelt und verfolgen auf einem Fernsehschirm die Live-Übertragung aus London. Als dann der fünfte und letzte Lord die Festnahme Pinochets für rechtmäßig erklärt, bricht Jubel aus. Freudentränen laufen den Menschen über das Gesicht, sie fallen sich in die Arme und rufen: „Pinochet, Mörder! Er soll uns sagen, wo sie sind.“

Die Vizepräsidentin der Organisation, Viviana Diaz, sagt mit zitternder Stimme: „Wir alle dachten, Pinochet würde niemals vor ein Gericht gestellt werden. In den vergangenen Tagen haben wir gelernt, daß es diese Möglichkeit gibt.“ An der Tafel im Versammlungsraum hat man die Tage mitgezählt, an denen der Ex-Diktator unter Arrest stand. Es waren 40, und sie werden jetzt weiterzählen.

Zur gleichen Zeit in der Pinochet-Stiftung in Santiago: Die 400 Gäste sind wütend, einige können ihre Zornesausbrüche nicht zurückhalten. Abwechselnd wird der von Pinochet gestürzte sozialistische Präsident Salvador Allende ein „Hurensohn“ genannt, dann sind wieder die Briten und die Spanier die „Hurensöhne“. In Sprechchören hallt es „Chi-Chi-Chiiiile – Viva Chile Pinochet!“ durch den Saal.

Der Präsident der Stiftung, Luis Cortes Villa, ruft die Regierung dazu auf, „jetzt das zu tun, was sie tun muß“, und zwar Pinochet so bald wie möglich nach Chile zurückzuholen. „Die Schuld an dieser Entscheidung trägt der Haß, den die Linke geschürt hat“, ruft er zornig in Mikrophone. Die Stimme des Sohns des Ex-Diktators, Augusto Pinochet Hiriat, überschlägt sich: „Wir haben eine Schlacht verloren, aber nicht den Krieg.“

Auf der Madrider Puerta del Sol erwarten am Mittwoch rund dreihundert Personen, Exilchilenen und Freunde, gespannt den Urteilsspruch. „Gleichgültig, wie die Entscheidung auch ausfällt“, sagte einer von ihnen kurz vor der Verlesung, „Pinochet ist durch dieses Verfahren bereits gebrandmarkt.“ Als die fünf Obersten Richter ihr Urteil bekanntgaben, fallen die Demonstranten einander in die Arme. Die Tochter des von Pinochet 1973 gestürzten Präsidenten, Isabel Allende, faßt ihre Gefühle in einem Wort zusammen: „Wunderbar“.

In einer ersten Stellungnahme spricht Premierminister Aznar von seinem „Respekt vor der chilenischen Demokratie“ und drückte seine Hoffnung aus, das Verfahren werde „die gute Zusammenarbeit zwischen den Ländern nicht beeinträchtigen“. Aznars Sorge gilt den diplomatischen Einrichtungen und der Sicherheit der spanischen Bürger in Chile; man fürchtet „unkontrollierte Aktionen“ von Pinochet- Sympathisanten.

Der Mann, dessen Haftbefehl das Auslieferungsverfahren ins Rollen gebracht hat, verläßt noch vor der Verlesung des Urteils sein Büro im Madrider Sondergerichtshof. Untersuchungsrichter Baltasar Garzón erfährt zu Hause während des Mittagessens, daß er seinem Ziel, Pinochet anklagen zu können, einen großen Schritt näher gekommen ist. Ingo Malcher, Santiago/Josef Manola, Madrid