Der endlose Tumult des Lebens

■ Der Spieler als Überlebenskünstler: Raymond Federman kommt mit seiner Haus-Jazzband Art de Fakt nach Deutschland

Mit Raymond Federmans Prosa ist es wie beim Fallschirmspringen: Entweder man wirft sich kopfüber in den Textstrudel oder man bleibt sicher an Bord. Ein Drittes gibt es nicht. Federman ist ein Spieler. Er mag Golf, Roulette und Wort- Pingpong per E-Mail. Diese Passionen sind auch in seinen Texten spürbar: Für jedes neue Werk variiert er – den man durchaus als seriellen Autor betrachten kann – die Regeln seiner Kunst auf überraschende Weise.

Zwischen den beiden Werken, die in diesem Jahr auf deutsch erschienenen sind, liegen knapp 20 Jahre und formale Welten. „Take it Or Leave it“ (1976) ist in Peter Torbergs souveräner Übersetzung wiederzuentdecken. Es ist ein ellenlanger, kraftstrotzender Road- Roman ohne Seitenzahlen und fast ohne Punkt und Komma, eine Clip-Erzählung in mehreren Stimmen, atemlos und ungeheuer dynamisch. Ganz anders der zusammen mit George Chambers verfaßte „Penner-Rap“ (1995), ein herrlich komprimiertes Genresammelsurium, das Stories, nützliche Altersweisheiten („Ein Freund wird dir nie sagen, daß dein Hosenschlitz offensteht“), Parabeln und die scheinbar harmlosen Reiseerlebnisse eines Altherrenduos zusammenwirft. Das geschieht in zirka 100 Rede-Sketchen, die oft nicht länger sind als eine Seite. Es ist ein Daumenkino, dessen verdichtete Bilder an allen Rändern ausbaufähig sind.

Daß der Jude Federman den Holocaust überlebte, verdankt er einem Zufall. In Paris 1942 versteckte ihn die Mutter in einem Schrank, bevor sie mit dem Rest der Familie – ihrem Mann und den beiden Töchtern – von der Gestapo verhaftet wurde. Dieser Augenblick macht den damals Vierzehnjährigen für immer zu einem zufällig Überlebenden, während die Familie in Auschwitz, wie er sagt, zu „Lampenschirmen“ oder „Seife“ wurde. Federman liebt diese harten Formulierungen, die er uns in seinen provozierend spielerischen Texten seit Jahrzehnten zuwirft. Man kann sich schlecht schützen vor so einem Autor, der nicht anklagt, sondern beiläufig konstatiert. Schockierend ist diese fast harmlose Art der Darstellung – meist verpackt im Nebeneinander obszöner Mackergeschichten, scharfer Versionen seiner Fluchtgeschichte, Fetzen von Tellerwäscher-Emigrantenstories und Kriegserinnerungen aus Korea.

Federman, der 15 Jahre nach seiner „zweiten Geburt“, wie er das „Schrankerlebnis“ auch bezeichnet, die Literatur als „mögliche Zukunft“ für sich entdeckte, gehört zu einer Autorengeneration, die sich mit und gegen die Großen der Moderne etablierte. Bei ihm landen Proust, Joyce, Mallarmé und Beckett humvorvoll auf dem Spieltisch, und stets wird gegen die eigene Behinderung durch Erlebtes und Gelesenes angeschrieben. So wimmelt es in „Take it Or Leave it“ von ästhetischen Einschüben, die den dynamischen Textstrom unterbrechen. Federman schreibt, um „dem Chaos des Überlebens Gestalt zu geben“: in tragikomischen Bildern, die die furchtbare Banalität und groteske Lächerlichkeit von existentiellen Situationen erahnen lassen – und die dabei nicht selten an Woody Allen erinnern.

Um den Tumult des Lebens auch wirklich zu erfassen, weigert sich Federman, „von oben herab“ informativ zu erzählen und hübsch konstruierte Werke zu verfassen. Also schreibt er sprunghaft, arbeitet mit typographischen Figuren, erzählt zum Beispiel eine kryptische Penner-Story, die er dann zehn Seiten später erklärt. Auf dem Terrain, das er als Autor beackert, gibt es nur Versuche, Improvisation, lustvoll jazzhaftes Rumgespiele: noodles. Frei nach Becketts Proust-Interpretation, derzufolge nur ein Mensch mit schlechtem Gedächtnis das Leben momentweise frisch erleben kann, spielt Federman die verschiedenen Versionen seiner Biographie durch. Er umstellt so die Erinnerung und versucht sie in der Summe ihrer Teile für einen Moment festzuhalten.

Federman ist trotz seiner 70 Jahre ein Temperamentbündel und somit einer, den man nicht bloß lesen sollte, sondern auch sehen und hören. Am besten in seiner Rolle als Vokalist mit seiner Haus-Jazzband Art de Fakt. Gaby Hartel

Raymond Federman mit Art de Fakt: 24. 11., München, Bongo Bar im Kunstpark Ost; 20.30 Uhr; 26. 11., Berlin, LiteraturWerkstatt Pankow, 20 Uhr.

Raymond Federman, George Chambers: „Penner-Rap. Endspiele“. Edition Suhrkamp, Frankfurt 1998, 200 S., 16,80 DM

Raymond Federman: „Take it Or Leave it“. Rogner & Bernhard, Hamburg 1998, 448 S., 29 DM