Raumschiffe zu Teflonpfannen

Anfang der siebziger Jahre ließen Popstars wie David Bowie, T. Rex, Suzi Quatro oder Gary Glitter gewöhnliche Rockgruppen wie Yes oder Emerson, Lake & Palmer alt aussehen. Sie trugen schrille und grelle Klamotten, kamen in Plateauschuhen dahergestakst und schminkten ihre Gesichter zu Masken. Damit propagierten sie das Schöne am Künstlichen. Und so wurden sie zu Helden des Glam Rock. Der Kinofilm „Velvet Goldmine“, der kommenden Donnerstag in Deutschland anläuft, feiert diesen Stil und dieses Jahrzeht des angeblich schlechten Geschmacks. Eine Würdigung  ■ von Thomas Groß

Ohne Suzi Fussey, eine Friseurin aus dem englischen Beckenham, wäre David Bowie heute womöglich nur eine Fußnote in der Geschichte des Pop. Sie war es, die den Sänger für eine LP in Ziggy Stardust verwandelte und damit zum Anführer des Glam Rock machte – schillernd, androgyn, außerirdisch. Eine Figur mit roter Stachelfrisur – oben Bürste, hinten Spoiler. Ein Schnitt, der Karriere machen sollte in den Fußballstadien dieser Welt.

So war das in den frühen Tagen der siebziger Jahre: Man mußte erfinderisch sein, um in der Rockwelt Aufsehen zu erregen. „Laß uns mehr sein als irgendeine Band“, soll David Bowie um die Jahreswende 1971/72 zu seinem Gitarristen Mick Ronson gesagt haben. Dann führte Bowie die drei stockheterosexuellen Gestalten, die seine Band waren, in den Keller eines Londoner Mietshauses, wo sie von Ehefrau Angela und Suzi Fussey in ihre neuen Persönlichkeiten hineingestopft wurden: die Spiders from Mars. Fertig war ein mobiles Einsatzkommando, das die Jugend dieser Welt aufrühren sollte wie zuvor nur die Beatles oder King Elvis persönlich. Und das in einer formschönen Gewandung aus Alufolie.

Das Erhabene und das Lächerliche – in der Ästhetik des Glam Rock waren sie schon immer eineiige Zwillinge. Glam kommt von Glamour, der Aura der frühen Hollywood-Stars, spielt aber in der Welt der Ladenmädchen und Teenager. Das markiert seine Fallhöhe. Glam handelt vom Schein, vom Triumph des Stils über das gewöhnliche Leben. Das macht ihn attraktiv, aber auch korrumpierbar. Glam ist ein Agent der Pose. Das verbindet ihn mit der Welt des Trashs, des schlechten Geschmacks – eine Welt, die er in seinem Sinn zu überhöhen versucht.

Nur konsequent, daß sich auch das Glamourmedium Film an diese Glamourphase erinnert. Velvet Goldmine, Todd Haynes kommenden Donnerstag anlaufender Kinobilderbogen, erzählt die Geschichte eines David Bowie nachempfundenen Rockstars, und er erzählt sie von ihrer großartigen, mythenkompatiblen Seite: Triumph und Verrat, Rausch und Katzenjammer, The Rise and Fall of... Doch wer glaubt, dieser Film sei einer über die siebziger Jahre, irrt.

Es ist ein Film darüber, wie die späten Neunziger sich die frühen Siebziger wünschen: eine verlorene Episode voller schöner Gesten, romantischer Helden, androgyn, sexy, schwelgerisch und dekadent wie der Adel im 18. Jahrhundert. Kreuz und quer, auch durch die Geschlechter, lümmeln sich Leiber auf Tudorsofas und nehmen Drogen... Glam handelt aber nicht nur von den feuchten Träumen, die er in Teenagern hervorrief, er hat noch einen Koffer in der Welt von Sitzsack und Schleiflack. Glam lebt vom So-tun-als-Ob. Sein Exzeß ist ein stilistischer.

Vielleicht liegt deswegen so etwas wie prometheische Scham über einem Teil seiner Protagonisten. Manche waren schon früher dagewesen als Bowie – aber erinnert man sich wirklich gern an sie? The Sweet: Frisurenmonster mit innenliegender Föhnwelle, die in Indianerkostümen ein mysteriöses Wigwam Bam herbeitrommelten. The Slade: Ex-Skinheads, denen man die Lust am Schlagen noch ansah, nunmehr zu hasenzähnigen Glitzerkumpeln und Gemütsmenschen gewendet. Gary Glitter: eine Art Tony Marshall des Genres; Abend für Abend zwang er seinen Bierbauch in ein viel zu enges Pailettenkostüm, aus dem oben die Brusthaare quollen. Suzi Quatro: notdürftig auf Glam hergerichtete Lederbraut mit dem Charme eines entlaufenen Heimzöglings.

Die Genealogien von Glam unterschlagen diese Ausgeburten der Unterhaltungsindustrie gern zugunsten der Lichtgestalten des Genres: neben Bowie vor allem der engelsgleiche Marc Bolan, der sinistre Iggy Pop, teilweise Lou Reed und – vor allem – Roxy Music, der Wunschtraum aller Kunststudenten. Roxy Music sind Vorzeigeglamrocker, weil sie zu wissen schienen, was sie taten, ihren Oscar Wilde gelesen hatten und mit Bryan Ferry und Eno gleich zwei hochgestylte Frontmänner auf die Bühne brachten. Ein Hauch von Sechziger-Jahre-Noblesse umgibt diese coolen Manieristen, eine Reminiszenz an Andy Warhol, der den androgynen Helden für die Popwelt neu entwarf.

Von dort leitet sich bekanntlich auch das Modell Lou Reed her. Es war Bowie, der dem Anfang der siebziger Jahre formkriselnden Lou Reed wieder auf die Beine half, indem er ihm ein neues Image als bleichgeschminktes, wimperngetuschtes Phantom des Rock entwarf. Arbeitstitel: Transformer. Bowie, der in seiner Jugend begeistert von einem New-York-Trip zurückkam, tat damit das gleiche wie Andy Warhol: Er entwarf Identitäten. Er war Herrscher und Mittelpunkt in seiner der Vorstadt abgerungenen Stardust Factory.

Marc Bolan alias T. Rex, einzig ernst zu nehmender Konkurrent um den Thron des Glam Rock, schrieb zwar glitzernde Songzeilen wie „I drive a Rolls-Royce cause it's good for my voice“, war aber unfähig, sein Zeug zusammenzuhalten. Vielleicht wurde er mehr geliebt als Bowie, aber er ging in die Breite und starb tragisch: in einem Mini Cooper.

Wenn Bowie, Bolan & Ferry der Hochadel des Glam sind, wirken Sweet, Slade & Co. heute wie die verarmten Verwandten aus der Landdisco. Doch so einfach lassen die sich eben nicht von der Party scheuchen. Glam war seiner industriellen Orientierung nach Hitparadenfutter. Die meisten Glamrocker standen bei Nicky Chinn und Mike Chapman unter Vertrag. Das Produzententeam der Stunde schrieb ihnen praktischerweise gleich noch die Hits aufs scheckige Image. Auch hier also Serialisierung, verbunden mit technisch gesteigertem Produktionsvolumen und modernem, glanzbeschichtetem Gefühlsdesign. Die „Chinnichap“-Bands waren nichts anderes als die demokratisierte Variante von Andy Warhols Traum von der Retortencombo als Supergroup.

Also die G-Klasse eines neuen kulturindustriellen Entwicklungsstands, der das Bewußtsein von der grenzenlosen Umschmelzbarkeit aller Materialien – Raumschiffe zu Teflonpfannen! – bereits zur Voraussetzung hatte und zu Beginn der Siebziger weit in die Kinderzimmer der Mittelklasse hineinstrahlte. Schon deshalb war das genuine Glam-Medium nicht die LP, sondern die Single, gemacht, um wieder und wieder genudelt zu werden. Ein Dutzend Mal „Teenage Rampage“, gefolgt von „Teenage Dream“, „48 Crash“ und „Mama, Weer All Crazee Now“ – das dürfte daheim ähnlichen Terror entfacht haben wie heute Techno. Glam wußte, daß er den Haß der Älteren auf sich ziehen würde, und er genoß es.

Die Älteren, das waren weniger die Eltern als die älteren Brüder, hoffnungslos verkeilt in einer selbst nur geerbten Welt aus angeblich progressivem Rock. Es war die Hochzeit von Yes, Jethro Tull und Emerson, Lake & Palmer. Irgendwie hatten es diese Typen geschafft, die Welt der Sechziger zu einem Rinnsal zu verdünnen und gleichzeitig zu einem gigantischen Popanz zu blähen. Das Ganze schrie förmlich nach Luftrauslassen – Pfffffft! In dieses Vakuum schlüpfte Glam – der Punk des Postmondlandungszeitalters.

Mit einem Schlag verjüngte sich das Alter der maßgeblichen Konsumenten um mindestens eine Dekade. Glam sagte: Bring das Beste in dir selbst heraus, so mickrig es auch sein mag. Glam sagte: Dreh dein Ego auf! Und Glam sagte: Trau keinem über vierzehn, wenn er nicht Iggy, Ziggy oder Lou heißt und daherkommt wie ein Pfau vom Mars.

Am konsequentesten hat David Bowie diese Lebenshilfe in „Moonage Daydream“ formuliert: Dreh das Licht herunter, schalt das Radio an. Und vor allem: Hab keine Angst. Die Yes-Brüder tun dir nichts. Auch die Eltern werde ich ersetzen. Wenn's sein muß, bin ich sogar Frau: „Freak out in a moonage daydream! Oh yeah!“ Der Song dröhnt schwermetallisch in den Ohren, auf der Bühne trieb Gitarrist Mick Ronson dazu mit Bowie Gitarrenfellatio. Doch der innerste Kern der Glam- Ästhetik ist von kindlicher Zartheit. Ziggy/Bowie ist ein Vorläufer von Luke Skywalker und Michael Jackson.

Offenkundig ist er kein Rebell alten Schlags, sondern ein Mann der Tagträume. Vorgezeichneten Identitäten zieht er die mediale Spiegelung vor, die schützt, aber flüchtig bleibt. Selbst die sexuellen Metaphern drehen sich um ein Epizentrum von Unsicherheit. Aber deswegen ist Ziggy ja gerade gelandet! Bei der Komplizenschaft zwischen Fan und Idol, die Glam stiftet, ist das Gefälle noch nicht austariert. Dem Helden haftet etwas kindlich Verspieltes an: Er verkleidet sich gern. Das macht ihn erreichbar.

Ziggy S. ist der Star, der aus dem Kinderzimmer kam. Vor allem auf frühen Fotografien, die ihn an der Schwelle vom Folkminstrel zum extraterrestrischen Troubadour zeigen, hat David Bowie das Charisma eines Imagebastlers, der den Kleiderschrank seiner Mutter geplündert hat, um in deren Strumpfhosen zum Karrieresprung anzusetzen.

Daß diese Nummer tatsächlich funktionierte, macht das kitschig-ramschig Großartige der Epoche aus. Glam entdeckte den Teenager als Dandy. Er öffnete die Tür für alle Arten von Selbstprojektion – gerade auch der waghalsigen. Und: Er gab sich ganz der korrumpierten Welt von Mode, Medien, Bewußtseinsindustrie hin, die er zauberhaft umdefinierte.

Glam ist Arbeit am (Instant-)Mythos, er handelt davon, in seinem eigenen Tagtraum wiedergeboren zu werden. Kein Detail der Glam-Semantik drückt das exakter aus als der Plateauschuh, ein Schuh, der seinen Träger schon von der Konstruktion her zwang, den staksigen Gang eines frischgeborenen Mondkalbs anzunehmen. Das waren zwar keine Blue Suede Shoes mehr. Aber dafür konnte auch keiner mehr drauftreten. Und Erhabenheit ist schließlich auch eine Zier. Als Glam-Rocker hatte jeder seine zehn Minuten Berühmtheit. „Hang On To Your Ego“: Der Plateauabsatz ist der unter die Schuhsohle gewanderte Laufsteg.

Glam Rock war der Anfang vom Ende der echtheitsorientierten sechziger Jahre. Es war ein leichter Abschied, aber eben auch einer für immer. Seither bleibt alles anders. Die Friseurinnen sind ins Abendprogramm vorgedrungen, das Kino wiederholt seine alten Triumphe, die Popmusik träumt von besseren Zeiten, und auch die Politik zehrt von der glänzenden, der symbolischen Geste. Joseph „Joschka“ Fischer in Warschau, Sabine „Strähnchen“ Christiansen im Talk mit den Cheerleadern der Republik, die taz mit Michael „Darling“ Naumann im Atrium der Deutschen Bank unter den vielbesungenen Linden: Alles Glam Rocker.

Glam ist der Schimmer einer durch und durch ästhetisierten Welt. Etwas festerer Boden wäre gelegentlich hilfreich. Doch es nützt nichts. Glam ist Dandyismus unter demokratischen Bedingungen. Jeder gräbt in dieser Goldmine.

Thomas Groß, 40, ist Kulturredakteur in der taz