Die Maschine ist der Detektiv

Aristotelische Einheit von Ort, Zeit, Handlung und Hurricane: Brian De Palma brilliert in „Snake Eyes – Spiel auf Zeit“ erneut mit einer furiosen Eingangssequenz  ■ Von Marion Löhndorf

Eine Reporterin steht in einem knallroten Anorak vor einem Casino in Atlantic City. Hinter ihr schieben sich Menschenmassen durch die Eingänge, nicht nur, um die Weltmeisterschaft im Schwergewichtsboxen zu sehen, sondern auch, um sich vor einem Hurricane in Sicherheit zu bringen. Die Fernsehfrau, beim Versuch, das Vorspiel zum sportlichen Ereignis zu kommentieren, schreit verzweifelt gegen den Sturm an. Die Situation ist schon panisch, bevor Brian De Palmas „Spiel auf Zeit“ überhaupt richtig anfängt. Das kurze, fulminante Intro gibt zwar Tempo und Tonlage vor, wird aber von den folgenden 20 Minuten noch übertroffen. Nicolas Cage erscheint als Polizist Rick Santoro, hyperaktiv, hektisch plappernd, immer in Bewegung, die Kamera verfolgt ihn beim rasanten, mehrfach unterbrochenen Gang durch das Casino zu den Zuschauerplätzen: eine 20minütige Steadycam-Fahrt ohne Schnitt, eine einzige optische Explosion.

In einem Film, der dem Augenschein geradezu plakative Zeichenhaftigkeit beimißt – um ihn auf Echtheit zu überprüfen und meist als Fälschung zu entlarven –, erscheint der Polizeimann als Prototyp des Unseriösen. Mit seinem Brillantinekopf, dem Satinanzug und Hawaiihemd sieht er aus wie einer von den kleinen Gangstern, denen er auf dem Weg zum Boxring noch prügelnd die Leviten liest. Sein wichtigstes Accessoire ist das pausenlos klingelnde goldene Handy. Er wird eingeführt als Großmaul, bestechlicher Cop, verschwendungssüchtiger Lebemann, untreuer Ehemann. Ein windiger Typ. Er bildet das energische Zentrum des Films, dessen Rhythmus sich durch Energieentfaltung unter zeitlichem Hochdruck bestimmt.

Im Zentrum des Chaos angekommen

Sein Gegenpart ist Gary Sinise, der aussieht wie ein neurotisch aus dem Ruder gelaufener Musterknabe, liniealgerader Scheitel, verkniffener Blick: Kevin Dunne ist Navy-Commander und Sicherheitschef des Verteidigungsministers, der den Boxkampf live miterleben will. Ein Karrieremann in Uniform, dekoriert mit weithin sichtbaren Insignien von Macht, Recht und Ordnung. Außerdem ist er, ungleiches Paar, Rick Santoros Freund aus Kindertagen. Die beiden, die zunächst wirken wie ein partnerschaftliches Team mit leicht komödiantischem Potential, werden nicht nur im Handumdrehen zu Gegnern. Es stellt sich auch heraus, daß weder der eine noch der andere ist, was er scheint. Jedenfalls nicht exakt: Der Commander ist weniger moralisch sattelfest, der Detective weniger bestechlich, als es aussieht.

Das Ende der Steadycam-Fahrt markiert auch formal einen ersten, zunächst rätselhaften Showdown. Als Santoro, der Mann mit dem goldenen Telefon, endlich das Zentrum des Chaos erreicht und in der ersten Reihe vor dem Ring Platz nimmt, kommt ein irritierendes Handlungskarussell in Bewegung: Der Sicherheitschef des Verteidigungsministers verläßt für einen Moment seinen Platz – neben Santoro. Den nimmt eine Blondine ein, die auf den Minister einredet. Ein Fan grölt eine aggressive Parole, im Boxring gibt es den ersten K.o., zwei Schüsse fallen. Der eine trifft den Minister in den Hals, der zweite verwundet die Frau, die die Flucht ergreift und dabei ihre blonde Perücke verliert. Weitere Schüsse treffen einen Mann auf der Tribüne, offenbar den Attentäter. All das passiert sehr schnell, parallel und scheinbar zusammenhanglos. Die Geschwindigkeit der ersten Minuten kulminiert in einer weiteren Verkürzung der Zeit: ein fast schockartiger Bildersturz. Durch den Verzicht auf artifiziell wirkende, in den Vordergrund tretende künstlerische Mittel entsteht – der berühmten Planungsgenauigkeit De Palmas zum Trotz – der Eindruck einer grandiosen Improvisation, offensiv und lebendig.

Die zweite Hälfte des Films postuliert – via Rick Santoro – Verbindungslinien zwischen den disparaten Vorgängen. In klassischer Thrillermanier folgen Entwirrung und Erklärung der Ereignisse im und um den Boxring. Unterhalb der solide spannenden, aber unspektakulären Handlungsschiene lotet der Film unablässig die eigenen manipulativen Möglichkeiten aus: über den illusionistischen Umgang mit dem Sehen und der Zeit hinaus macht er beides auch zum selbstreflexiven Thema. Prolog und Hauptteil sind deutlich voneinander abgegrenzt. Der Rhythmus, immer noch sehr zügig, gerät in gemäßigtere Fahrwasser. Dennoch fallen in etwa Erzähltempo und erzählte Zeit zusammen; wobei die Zeit durch die Brechung in unterschiedliche Perspektiven wieder zergliedert und so der Eindruck der Raffung erzeugt wird.

Die Außenwelt bietet keine Zuflucht

Die Wirkung von Intensität und Zuspitzung verstärkt sich durch die weitgehende Konzentration auf einen Ort – das fensterlose Casino mit dem dazugehörigen Hotel – und den weitgehenden Verzicht auf Außenaufnahmen: Zwar sind die Räume so groß, daß nicht durchgängig von einer klaustrophobischen Situation die Rede sein kann. Wohl aber wird eine in sich abgeschlossene, kalte, funktionale Welt hergestellt. Und während im Casino die Verschwörung, die der Polizist Schritt für Schritt aufdeckt, Opfer fordert, tobt draußen der Hurricane: Auch die Außenwelt ist hier kein Zufluchtsort mehr.

Die Entschlüsselung der Zusammenhänge verdankt der Detective nicht dem, was er als gesichert annimmt (die Freundschaft des Navy-Commanders) oder mit eigenen Augen zu sehen glaubt (der K.o. des als Favoriten gehandelten Boxchampions). Die Wahrheit entdeckt ihm schrittweise das Kameraauge: Das Casino steckt voller Überwachungsapparate. Fast jeder Schritt jedes Verdächtigen – und jedes Besuchers überhaupt – läßt sich überprüfen. Im Grunde eine ähnlich bedrohliche, fast ausweglose Situation wie die des Eingeschlossenseins. Der Film gibt den vollständigen Überwachungszustand ganz beiläufig preis; er verzichtet darauf, daraus einen durchaus möglichen Angsteffekt zu schlagen. Voyeurismus, ein De-Palma-Lieblingsthema, tritt hier auf ganz alltägliche, sogar nützliche Weise in Erscheinung, als nicht zu hinterfragende Selbstverständlichkeit.

Die Schlußszene, vordergründig banal in ihrer seichten Ironie wirkend, fügt sich lückenlos in De Palmas sardonische Hommage an die Wahrnehmung durch den fremdgesteuerten Blick ein: Rick Santoro, nach Abschluß des Falls zuerst als Held gefeiert, später aber von den Medien geächtet, zieht Bilanz. Immerhin sei er durch die ganze Sache einmal im Fernsehen zu sehen gewesen. Das klingt, als ob die Erscheinung seiner Person auf einem Bildschirm seine Existenz erst manifestierte und wert machte. So als ob die mediale Reproduktion der Realität längst überlegen wäre. De Palmas Film flirtet in knalligen, schnellen Bildern, intelligent und nur scheinbar gelassen mit dieser ernüchternd zeitgenössischen Vorstellung: Lichtjahre entfernt von den Vorgängern dieses Gedankens, den schon bemoosten Ideen des Lebens, das die Kunst nachahmt und dem Ineinandergreifen von Traum und Wirklichkeit.

„Spiel auf Zeit“. Regie: Brian de Palma. Mit Nicolas Cage, Gary Sinise, John Heard u.a. USA 1998, 99 Minuten