Der Soziologe als letzter Universalist

■ Niklas Luhmann, der nach seinem Jurastudium zunächst als Verwaltungsbeamter tätig war, kam eher zufällig zur Soziologie. Seine steile wissenschaftliche Karriere startete er als Quereinsteiger

Niklas Luhmann wurde am 8. Dezember 1927 geboren und gehört damit zu der Generation, die wir heute als „Flakhelfergeneration“ bezeichnen. Der Sohn einer mittelständischen Familie – sein Vater führte eine kleine Brauerei im norddeutschen Lüneburg – wuchs in liberalen Verhältnissen auf und übernahm vom Vater vor allem das Interesse für wirtschaftliche Themen. „Die Börse lügt nicht“, pflegte der Vater zu sagen, um sein Studium des Börsenteils in den Zeitungen zu erklären – eine Antwort, die Niklas Luhmann schwer beeindruckte.

Das Verhältnis der Familie zu den Nazis war, so sagte er rückblickend in einem Interview, „immer schwierig, aber lösbar, indem man sich irgendwie verkroch und sich möglichst wenig sichtbar machte“. Dennoch beschreiben seine Erinnerungen, was einem Kind damals wahrzunehmen möglich war. Als er 1938 von einem Urlaub in der Schweiz zurückkehrte, brachte er von dort wie selbstverständlich eine Gegnerschaft zum spanischen Diktator Franco mit, die in der Schule in Lüneburg gänzlich inakzeptabel war. Jahre später entdeckte der Flakhelfer zwei Piloten eines über Lüneburg abgestürzten britischen Flugzeugs in der Flugzeughalle: von hinten erschossen.

Vielleicht war es das Erleben solcher Rechtsverletzungen, die Luhmann nach dem Krieg und nach US-amerikanischer Gefangenschaft – die er als „nicht den internationalen Konventionen entsprechend“ erlebte – dazu brachten, Jura zu studieren. Nach dem Abschluß 1949 wählte er die Laufbahn eines Verwaltungsbeamten – eine Universitätskarriere zog er zunächst nicht in Betracht. Er arbeitete im Oberverwaltungsgericht Lüneburg als Assistent des Präsidenten am Aufbau einer Bibliothek nichtveröffentlichter Entscheidungen und war von 1954 bis 1962 für die niedersächsische Landesregierung tätig – zuletzt als Oberregierungsrat und Landtagsreferent im Kultusministerium. Eher zufällig landete er schließlich bei der Soziologie, als er während eines Stipendiums zur Weiterbildung von Verwaltungsbeamten an der Harvard-University mit Talcott Parsons zusammentraf und sich intensiv mit dessen „Struktur- Funktionalismus“ auseinandersetzte.

Heute nennt man Leute mit einer solchen Biographie „Quereinsteiger“. Quereinsteiger Luhmann also benötigte schließlich nur ein Semester, um 1966 Dissertation und Habilitation bei Helmut Schelsky und Dieter Claessens in Münster nachzuholen. Am 25. Januar 1967 folgte die programmatische Antrittsvorlesung zum Thema „Soziologische Aufklärung“. Schon 1968 erhielt Luhmann einen Ruf an die neugegründete Reformuniversität in Bielefeld.

Seine steile wissenschaftliche Karriere, seinen Aufstieg zum „Theoriekönig“ (Zeit) und sein außerordentliches Renommee verdanken sich einer konsequenten und systematischen Publikationsstrategie ebenso wie der Systematik seines Denkens und der virtuosen Begriffsarbeit, die die monotheoretische Erfassung der gesamten Gesellschaft anstrebte: der Soziologe als letzter Universalist. Seinen allumfassenden Anspruch versuchte er schließlich in dem Werk „Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie“ (1984) zu begründen – neben der 1991 erschienenen „Wissenschaft der Gesellschaft“ Luhmanns Hauptwerk. Bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1993 lehrte Luhmann in Bielefeld. Jörg Magenau