Die Zukunft als Ende der Vergangenheit

■ Mit Rot-Grün verbindet sich Hoffnung auf eine Renovierung der Gesellschaft, aber auch die Angst vor einer Entsorgung der Geschichte

Niemals zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik hat es an der Spitze des Staates einen derartigen Generationswechsel gegeben. Dies bezieht sich nicht nur auf Fragen der Biologie, sondern vor allem der Erfahrung. Die 68er haben es schlußendlich an die Macht geschafft. Die Frage ist natürlich noch, was sie jetzt damit anstellen.

Ich möchte mich hier mit sechs Feldern möglicher Veränderungen beschäftigen, die eine richtige Abkehr von der Vergangenheit bedeuten würden. Vier davon begrüße ich herzlich, zwei hingegen verfolge ich mit beträchtlicher Sorge.

Zuallererst plant diese Regierung, das Verständnis und die Grenzen von deutscher Staatsbürgerschaft neu zu definieren. Damit wird diese Regierung endlich einen der häßlichsten Makel des modernen Deutschland wenn nicht gänzlich beseitigen, so doch lindern: sein Ius sanguinis als maßgebliche Grundlage für die Staatsbürgerschaft. Nun sind die entsprechenden Pläne für meinen Geschmack bei weitem nicht radikal genug, doch allein für diese Reform verdient die neue Regierung die Unterstützung von Progressiven in Deutschland und ihren Freunden anderswo.

Zweitens: Indem sie Energie verteuert und Arbeit verbilligt, verfolgt diese Regierung den richtigen Ansatz, um die Plage der anhaltenden Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Auch hier reichen mir die Pläne nicht weit genug, weder bei der Preiserhöhung für Energie noch der Absenkung der Arbeitskosten, doch die eingeschlagene Richtung ist löblich.

Drittens: Der Ausstieg aus der Atomenergie ist ein lange überfälliger und begrüßenswerter Schritt. Daß es bisher an einem eindeutig festgelegten Zeitplan für den Ausstieg fehlt, mißfällt mir zwar, aber im Kern ist dies die richtige Politik.

Die vierte Veränderung, die ich begrüße, betrifft die Akzentverschiebung bei der Finanz- und Wirtschaftspolitik: die Wiederbelebung eines gemäßigten Keynesianismus im Bereich der Nachfragepolitik; eine etwas weniger strikte Fiskalpolitik, um zumindest kurzfristig der Stagnation auf dem Arbeitsmarkt mit einem Impuls zu begegnen; und den damit verbundenen Druck, eine etwas weniger restriktive Geld- und Zinspolitik zu verfolgen, als sie von der Bundesbank und den Maastrichter Regeln vorgeschrieben wird.

Aber nun zu den zwei Veränderungen, die mir beträchtliche Sorgen bereiten:

Im Zusammenhang mit dem Aufbau eines geeinten Europa ist da zuerst die klare Präferenz, welche die neue Regierung den Beziehungen zu Frankreich im Vergleich zu allen anderen Staaten einräumt, sowie die schrittweise Distanzierung von den USA und dem Atlantizismus der Bonner Republik. Natürlich sollte es nie einen Zweifel an der zentralen Bedeutung der französisch-deutschen Beziehungen für das Schicksal der europäischen Einheit geben. Allerdings entdecke ich in der deutschen Politik nichts, was auf eine kritische Haltung gegenüber Frankreichs nationalistischem Partikularismus hinweist, bei dem jegliche europäische Orientierung bestenfalls die zweite Geige spielt.

In Nuklearfragen zum Beispiel, aber auch in vielen anderen, sollte Deutschland den Franzosen nicht nur kritisch begegnen, sondern auch der unverhältnismäßigen französischen Macht in den politischen Entscheidungsprozessen in Brüssel und anderswo entgegentreten. In bezug auf die USA kann es keinen Zweifel geben, daß die zunehmende europäische Integration unausweichlich zu einer Rivalität mit und Distanzierung von den Vereinigten Staaten führen wird – auch wenn die Integration im Hinblick auf Politik und Kultur noch in den Kinderschuhen steckt. Abgesehen von den üblichen Platitüden zu den „Verpflichtungen im Rahmen der Atlantischen Allianz“ findet sich in den Erklärungen dieser Regierung nichts, was die Vermutung nahelegt, das Problem würde auch nur ernsthaft erwogen, geschweige denn angegangen.

Schließlich, um zu meinem letzten Punkt zu kommen, bin ich tief besorgt, daß ironischerweise unter einer rot-grünen Regierung der langersehnte Schlußstrich unter die Nazi-Vergangenheit gezogen werden könnte.

Dies würde nur schrittweise geschehen, keine Frage, aber nichtsdestotrotz in entschlossener Weise. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Diese Regierung ist über jeden Verdacht erhaben, in irgendeiner Weise einer wie auch immer gearteten Form von Nationalsozialismus mit Sympathie zu begegnen – sowohl aufgrund der beiden Parteien, die sie bilden, als auch aufgrund der Generationszugehörigkeit wie der Biographien ihrer politischen Köpfe. Es mangelt nicht an Hinweisen darauf, daß der hochgradig populäre Schlußstrich gezogen werden könnte, der allmählich den Deutschen ihre belastende Vergangenheit austreiben würde.

Gerhard Schröder hat mehr als deutlich gemacht, was ihn von Helmut Kohl unterscheidet: Während Kohl keine andere Wahl hatte, als ein guter Europäer zu sein, genießt Schröder den Luxus, auf diesem Gebiet frei handeln zu können, wobei Schröders freiwilliger „Europäismus“ nie eine Folie für die Probleme wäre, die bisher damit verbunden wurden, Deutscher zu sein. Es gibt bedrückende Zeichen dafür, daß diese Regierung und ihre Unterstützer es für politisch geboten halten, die Juden sich selbst zu überlassen, und zwar nicht durch Akte von offener Feindseligkeit oder von Vernachlässigung, sondern durch Schweigen.

Zu diesen Zeichen gehört Michael Naumanns weithin publizierte Gegnerschaft zum Holocaust-Mahnmal in Berlin, verbunden mit seiner Unterstützung für den Wiederaufbau des Stadtschlosses. Hinzu kommt, daß, abgesehen von sehr wenigen Ausnahmen, kein führender linker Intellektueller – und mit Sicherheit kein einziges Mitglied der jetzigen Regierung – es für wichtig erachtete, den Bau des Mahnmals zu unterstützen oder den offen rechten Ton von Martin Walsers Rede in Frankfurt zu kritisieren.

In gewisser Weise ist es angemessen, daß eine neue Generation, die Söhne und Töchter der alten Bonner Republik, den politischen Übergang in die neue Berliner Republik am Beginn eines neuen Jahrtausends einleitet. Auch wenn die Aufgabe, die vor ihnen liegt, weit entfernt ist von den Hoffnungen und Zielen der ursprünglichen 68er, so ist sie nicht weniger beängstigend und edel als die, welche sie vor dreißig Jahren als Rebellen angehen wollten. Wohl mag sie ein Stück weniger romantisch und glamourös sein, dafür um so wichtiger für Deutschland und Europa. Andrei S. Markovits