Rußlands höchste poetische Instanz

■ Die szenische Lesung in russischer Sprache ist ein einmaliges Gastspiel: Gedichte, Briefe und Erinnerungen der Dichter Anna Achmatowa und Ossip Mandelstam im Theater Fürst Oblomov

Bei diesem einmaligen Gastspiel von Jekaterina Gusewa und Wictor Schulman handelt es sich um eine szenische Lesung in russischer Sprache. Die „verdiente Schauspielerin Rußlands“ und der Regisseur und Intendant aus Sibirien, die seit drei Jahren in Berlin leben, haben sich auf diese Kunstform spezialisiert, die hier nahezu unbekannt ist, weil kaum jemand derartige Reim-Volumina auswendig vortragen kann, von Ungereimtem ganz zu schweigen.

Insofern ist es keine „Lesung“, sondern ein Phänomen, das schon vor Jahrzehnten die amerikanischen Slawisten gehörig verwunderte. Jekaterina Gusewa und Wictor Schulman versuchen damit die russischen Klassiker am Leben zu erhalten. Nebenbei arbeiten sie auch noch an der Inszenierung moderner Theaterstücke – ebenfalls auf russisch. Die Programmgestalter der jüdischen Kulturtage in Heidelberg schrieben: „Für alle, die die russische Sprache, Kunst und Kultur lieben, waren die (...) literarischen Abende Ereignis und Genuß.“

Die Klassiker der russischen Literatur, beginnend mit Puschkin, zeichneten sich dadurch aus, „daß sie aus Opposition zum herrschenden Regime, aus Kampfgeist, geboren wurden“ (Rosa Luxemburg). Die Achmatowa und Mandelstam gehören zum „Silbernen Zeitalter“, die Dichterin wurde 1946 aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen, der Dichter starb 1938 auf dem Transport in ein sibirisches Lager. Teilt man die Weltliteratur in „genehmigte Werke“ und „solche, die ohne Genehmigung geschrieben wurden“, dann gehören die der beiden zweifellos zu den letzteren: „Die ersteren sind schmutziges Zeug, die letzteren – gestohlene Luft“, urteilte Ossip Mandelstam 1929. Obwohl er eine sozusagen stark verdichtete Prosa schrieb, erfuhr sein Werk auch in deutscher Übersetzung eine gewisse Verbreitung, was man von den Gedichten der Achmatowa nicht sagen kann. In Rußland ist das jedoch anders. Zeitlebens war die Achmatowa dort so etwas wie die höchste poetische Instanz. Noch Solschenizyn trug ihr seine Gedichte vor – danach wechselte er das Genre.

Kurzum: Es lohnt sich, die Werke der beiden im Original zu „erleben“. Das Theater Fürst Oblomow, den russischen Autoren gewissermaßen verpflichtet, ging aus der ersten Freien Theatergruppe der DDR hervor und gehört heute zum Verein Theater und Schule. Helmut Höge

„Anna Achmatowa und Ossip Mandelstam“ am 11.11. um 20 Uhr, Theater Fürst Oblomov, Friedrichstraße 95