■ Die CDU will auf ihrem Parteitag ein „Aufbruchssignal“ in die Gesellschaft senden. Wie es klingen soll, weiß dort freilich niemand
: Die Ratlosigkeit nach Kohl

Ein „Aufbruchssignal“ müsse von ihrem Parteitag ausgehen, ist aus der CDU zu hören. Man kennt das. Es war zu erwarten, daß die Union nach ihrem Wahldebakel vom September diese Standardfloskel in Umlauf setzen würde. Was sonst sollten sie sagen, die Christdemokraten? Denn natürlich haben sie recht: Nichts hat die CDU nach ihrer schwersten Niederlage seit 1949 so nötig wie den Aufbruch aus dem beengten und beengenden Kosmos der Ära Kohl. Also Aufbruch.

Nun ist Aufbruch nach den Kriterien der Mediendemokratie vor allem dann, wenn es einer Partei gelingt, neues Personal zu installieren, ohne das alte unbillig zu demontieren und leer ausgegangene Aspiranten in den Widerstand zu treiben. Als zukünftiger Parteichef hat Wolfgang Schäuble mit Härte und Geschick daran gearbeitet, Kampfkandidaturen zu verhindern und ein ausgewogenes „Personaltableau“ zusammenzustellen. Generalsekretärin wird mit Angela Merkel eine starke Frau aus dem Osten. Um die vier Posten der stellvertretenden Vorsitzenden wird es keine mißlichen Kampfkandidaturen geben: Der aufrechte Norbert Blüm bleibt der Partei als „soziales Gewissen“ erhalten, der Norddeutsche Volker Rühe steht für routinierte Professionalität, der niedersächsische Oppositionsführer Christian Wulff soll pars pro toto die Hoffnungen der Jüngeren tragen, in der baden- württembergischen Kultusministerin Annette Schavan schließlich verbinden sich die Vorzüge weiblicher Geschlechtszugehörigkeit und intellektueller Brillanz. Daß ihr Ministerpräsident verbittert auf der Strecke geblieben ist, kann Schäuble verschmerzen; Quertreibereien sind vom redlichen Erwin Teufel kaum zu befürchten. Und das unvermeidliche Gezerre um nachgeordnete Posten wird den medialen Gesamteindruck des Parteitages kaum trüben.

Damit stehen Wolfgang Schäubles Chancen alles in allem gar nicht so schlecht, am Montag morgen den Begriff „Aufbruchssignal“ gleich dutzendfach in seinem Pressespiegel zu entdecken. So gesehen könnten die Christdemokraten ihren Parteitag dann als Erfolg betrachten, als ersten Schritt zurück zur Macht. Daß die neue Regierung in diesen Wochen erst gar nicht zu versuchen scheint, einen schlüssigen Neubeginn zu inszenieren, sondern mit hochfahrendem Gestus und halbherzigem Geschuster die gerade erst eroberte neue Mitte verprellt, könnten die Christdemokraten als zusätzliches Signal für einen Backlash zu ihren Gunsten deuten.

Es wäre ein Irrtum. Zwar verdankt die neue Regierung ihre Mehrheit einer vorläufigen Koalition disparater Wählergruppen, die sich so schnell wieder zerstreuen könnte, wie sie entstanden ist. Eine gesamtideell rot-grün gesinnte Wählermehrheit gab und gibt es eben nicht. Doch nichts rechtfertigt den Umkehrschluß, daß der Zerfall jener Wählerkoalition zur Rückkehr der alten Selbstverständlichkeit christdemokratischer Machtausübung führt. Das zentrale Ergebnis der Wahl war das endgültige Ende der CDU als „großer Volkspartei der Mitte“ alten Typs. Ein reibungsloser Personalwechsel mag der CDU ein günstiges Medienecho bescheren, über ihre Perspektiven besagt er wenig.

Noch hat sich die Einsicht nicht durchgesetzt, daß die Wahl vom September das gewesen sein könnte, was Amerikaner eine critical election nennen – eine Wahl also, die das Parteiensystem aus den Angeln hebt, weil sich die zugrundeliegenden politischen und kulturellen Orientierungen fundamental verändert haben. Was an die Stelle des Alten treten wird, muß dabei durchaus nicht klar sein. Wenig spricht jedenfalls für die Annahme, daß die alte CDU- Hegemonie nun durch die dauerhafte Vorherrschaft einer einzigen Partei oder Parteiformation ersetzt wird. Die langjährige Macht der CDU fußte nicht zuletzt im symbiotischen Einklang der Union mit den intakten (klein-)bürgerlichen Milieus und Mentalitäten der Bonner Republik, die nun nicht bloß im formalen Sinne an ihr Ende gelangt ist.

Das Ausmaß der Niederlage der Union gerade in den Gruppen, die auf absehbare Zeit die sozial-kulturelle und demographische Mitte der Republik bilden werden, hat die zwischen Partei und Gesellschaft entstandene Ungleichzeitigkeit dramatisch zum Vorschein gebracht. Der Union sind ihre Voraussetzungen abhanden gekommen, die sie aus eigener Kraft nicht wiederherstellen kann: Erst verblaßte mit der Säkularisierung der christliche Wertekonsens, dann ging mit dem Ende des Ost-West- Konflikts der Antikommunismus als gemeinschaftsstiftender Kitt verloren. Am Ende verdeckte nur noch Helmut Kohls breiter Rücken noch eine Weile die Auflösung, in welche die altbürgerliche Welt der CDU geraten war.

Die Union wird es anders versuchen müssen. Schon werden neue strategische Optionen ventiliert. Jene Christdemokraten, die besonders viel aus ihrer Niederlage gelernt zu haben glauben, peilen Bündnisse mit den Grünen an. Doch mit bloß strategischem Kalkül wird der CDU nicht mehr viel gelingen. Gewiß gibt es die Schnittmengen zwischen Schwarzen und Grünen. Doch in ihrer jeweiligen Gesamtheit wären Schwarze und Grüne niemals miteinander zu vermählen. Nicht nur die alte CDU steht ja im Grunde heute schon quer zu den großen neuen Konfliktlinien. Das ist der Kern des Problems. Der Riß zwischen „Modernisierern“ und „Traditionalisten“, zwischen „Gewinnern“ und „Verlierern“, „Globalisten“ und „Territorialisten“ verläuft mitten durch alle Parteien. Seine symbolische Überbrückung durch dynamische Querfrontkandidaten vom Schlage Schröder oder Stoiber wird das Dilemma bestenfalls für eine Weile vertuschen.

Strukturell geht es der Union also nicht einmal viel schlechter als der SPD. Doch als Partei der alten Selbstverständlichkeit fehlt ihr heute weithin das intellektuelle Potential zur Reflexion der eigenen Voraussetzungen und Möglichkeiten. Den Sozialdemokraten sind ihre überschießenden Debatten in der Vergangenheit oft in die Quere gekommen; in der CDU hingegen ist die Praxis der argumentativen Selbstvergewisserung nach einem Vierteljahrhundert Kohl allzu unterentwickelt. Sie zu beleben wäre die Vorbedingung dafür, daß die Union sich überhaupt erfolgreich in die Berliner Republik eintakten kann. Erst dann hätten auch Bündnisstrategien wieder ihren Sinn.

Das ist die Lage. Konkrete Handlungsempfehlungen für ratlose CDU-Politiker lassen sich aus alldem nicht ableiten. So bleibt es beim üblichen „Aufbruch“. Tobias Dürr