■ Es gibt keinen Grund, von Kontinuität zu faseln. Der deutsche Regierungwechsel führt zum europäischen Politikwechsel
: Intellektuelle, lest Keynes!

„Jetzt sind wir alle

Keynesianer und gute

Europäer ebenso“

Ein schwedischer

Delegierter beim

Pörtschacher EU-Gipfel

Die Prophezeiungen tönen noch in den Ohren: Die SPD-geführte Regierung in Deutschland werde Kohlismus, bloß neu koloriert, betreiben. Rot-Grün, lange ersehnt, sei plötzlich da, aber kein „Wunschkind“ mehr, ohne Emphase. Tatsächlich liefen die Herren Schröder und Fischer ja Gefahr, ihrem ängstlichen Kontinuitätsgefasel selbst Glauben zu schenken. Gerhard Schröder, immerhin, hatte auf seine unnachahmliche Art, sich mit heroischem Gestus in die Zwänge der Realität zu fügen, noch im Wahlkampf kundgetan: „Das Primat der Ökonomie in dieser Gesellschaft wird auch die SPD nicht außer Kraft setzen.“ So konnte zweierlei leicht übersehen werden: Die Wähler selbst haben sich für einen radikaleren Wandel entschieden, als er den SPD-Vorleuten vorschwebte, indem sie erstmals in der BRD den Mitte-links-Parteien eine – deutliche – absolute Mehrheit verschafften. Und sie haben nicht nur für einen Kurswechsel in Deutschland, sondern vor allem auch für eine Tendenzwende in Europa gestimmt.

Jetzt klingt die deutsche Regierung wieder harmonisch im europäischen Konzert. Der Regierungswechsel verleiht dem kontinentalen Politikwechsel einen neuen Impuls und wird, umgekehrt, durch die neuen europäischen Töne mit Inhalt gefüllt. Das Liedgut klingt neokeynesianisch, sozialdemokratisch.

Bedürfte es hierfür eines – buchstäblich – „unabhängigen“ Beweises, dann höre man auf die europäischen Zentralbanker. Die sind ziemlich sauer dieser Tage. Und der Economist, so etwas wie das Zentralorgan des europäischen Kapitalismus, sieht die kontinentale Politik „gefährlich nach links“ driften. Europäische Zusammenkünfte – der Pörtschacher EU- Gipfel, zuletzt das Treffen Blair/ Schröder in London – geraten zu Feierstunden für den neuen europäischen Trend. Was ist geschehen? Beim Pörtschacher EU-Gipfel, einem informellen Treffen ohne große Beschlüsse, hatten „Europas neue Rote“ – Blair, Schröder, Jospin, D'Alema, Klima und Genossen – ihre neue Dominanz zelebriert. „Es braucht eine Wende von der puren Stabilitätspolitik zu einer konzertierten Anstrengung für Beschäftigung und Wachstum“, hatte Viktor Klima, der Gastgeber, kundgetan. Zudem gäbe es eine historische Chance „für niedrige Zinsen“, was offen läßt, ob damit niedrigere Zinsen gemeint sind.

Etwa zeitgleich stellte Oskar Lafontaine das päpstliche Unfehlbarkeitsdogma der Zentralbanker in Frage. Lionel Jospin wiederum empfahl ein europäisches Beschäftigungs- und Investitionsprogramm, finanziert aus überflüssigen Währungsreserven der Zentralbanken, der Maastrichter „Stabilitätspakt“-Fundamentalismus ist klinisch tot. Die gegenwärtige österreichische EU-Präsidentschaft versucht nun doch noch vorwärtszubringen, was die abgewählte deutsche Regierung nachdrücklich blockierte: eine Harmonisierung von Kapital- und Unternehmenssteuern im EU-Rahmen. Ist das alles nichts? Business as usual, neu koloriert? Nein, der neue Wind bläst von links durch Europa. Wofür viele lange gestritten haben, einen veritablen ideologischen Kampf führten, ist gelungen: Eine Tendenzwende ist eingetreten. Zudem haben die sozialdemokratischen und linken Parteien Europas ihre Lektion gelernt. Der „Keynesianismus in einem Land“, der auf relativ autarken Binnenökonomien und reguliertem Kapitalverkehr beruhte, ist perdu. Diese Erkenntnis brachte manche Linke einige Jahre lang ins Fahrwasser der Neoliberalen. Jetzt ist, als neues Projekt der Linken, europäische Reregulierung entdeckt – das Wort vom „Eurokeynesianismus“ ist in aller Munde.

Ein paar Elemente einer solchen Reregulierung sind derweil bekannt: Steuererleichterungen für Arbeit, Besteuerung von Ressourcen, Harmonisierung der Fiskalpolitik, um Steuerdumping – „Standortkonkurrenz“ – zu vermeiden; die Etablierung eines gemeinsamen Währungsraums – „Euroland“ –, um die Chancen zu Zinsreduktionen zu verbessern, spekulative Angriffe des Finanzkapitals auf die Nationalökonomien abzuwenden und damit Investitionen in produktive Anlagen zu begünstigen.

Damit sind auch die Grundprinzipien einer neuen sozialdemokratischen Politik sichtbar: Sie akzeptiert, daß die Marktkräfte nicht ausgeschaltet, aber reguliert werden können; solche Regulierung meist mit anderen Ländern koordiniert werden muß; die Gewalt der internationalen Finanzmärkte eingedämmt werden muß; die europäische Integration dafür Möglichkeiten bietet, über die die Nationalstaaten nicht mehr verfügen. Bei aller Heterogenität – Marke „Old“ versus „New Labour“ – sind sich Europas Linksparteien darin sehr einig.

Dieser linke Konsens weist freilich zwei Schwachpunkte auf. Eine solche politische Praxis ist nicht mehr eingebettet in ein historisches, moralisches Narrativ wie jenes des alten Sozialismus, das uns vom Kampf der Entrechteten um eine bessere Zukunft erzählte. Es gibt Versuche, ein neues Narrativ zu etablieren. Bei aller gerechtfertigten Kritik: Tony Blairs mit erstaunlicher Ausdauer betriebenes Unternehmen, seine „Third-Way- Doktrin“ eines Königsweges zwischen Laisser-faire-Kapitalismus und linkem Etatismus unter die Leute zu bringen, ist immerhin der Versuch, die Tagespraxis intellektuell zu grundieren.

Das zweite Dilemma hat Peter Glotz formuliert: Die Reregulierungsvorschläge gehen im Prinzip in die richtige Richtung, sind aber zu grob. Sollen sie Erfolg haben, müssen sie so raffiniert sein wie der beschleunigte, interdependente, digitalisierte Kapitalismus selbst.

Die intellektuelle Linke in Europa sollte sich nicht allzuviel Zeit dafür nehmen, die Überraschung zu verdauen, daß es – neben dem mit dem Gestus der Langeweile erwarteten Regierungswechsel in der Bundesrepublik – nun doch zum Politikwechsel kommt, zur Wende im emphatischen Sinn. Sie hat Vorschläge zu unterbreiten, sich einzumengen. Wir regieren jetzt. Punktum. Sind wir dafür gerüstet? Das ist fraglich. Pointiert formuliert: Was haben wir, mit Gewinn, nicht alles gelesen in den letzten zehn Jahren? Die einen Rorty und Sennett, einzelne Gramsci, ein paar Althusser, viele Foucault und Derrida. Es ist an der Zeit, so scheint's, John Maynard Keynes zu lesen. Robert Misik