Apartheid ist ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Ihr Hauptverantwortlicher heißt Pieter Willem Botha, früherer Präsident Südafrikas. Zu diesem Schluß kommt nach dreijähriger Arbeit und Tausenden Zeugenaussagen die Wahrheitskommission. Doch ihr Bericht stellt ebenso die Frage nach der Moral einer Befreiungsbewegung: Auch der ANC hat die Menschenrechte verletzt, „Kollaborateure“ gefoltert und Unschuldige ermordet. Aus Pretoria Kordula Doerfler

Verbrechen Apartheid und die Moral des Widerstands

Das Werk umfaßt fünf Bände und wiegt acht Kilogramm. Auf 3.500 Seiten faßt Südafrikas Wahrheitskommission die Ergebnisse ihrer dreijährigen Arbeit zusammen, die seit gestern öffentlich sind. Mehr als 20.000 Opfer von schweren Menschenrechtsverletzungen wurden angehört oder machten schriftliche Aussagen – eine Sisyphosarbeit für alle Beteiligten. Im nächsten Jahr wird der Bericht noch einmal um den komplizierten Prozeß der Amnestierung ergänzt werden müssen.

Seit gestern nun müssen am Kap die Geschichtsbücher neu geschrieben werden: Die Apartheid, das ist nun historische „Wahrheit“, war ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Eine wenig überraschende, aber dennoch fundamentale Erkenntnis.

„Der Staat war in der Zeit von 1960 bis 1994 (dem Untersuchungszeitraum, Anm. d. Red.) der Hauptverantwortliche für schwere Menschenrechtsverletzungen“, heißt es im Bericht. Auch vier Jahre nach dem Machtwechsel ist das keineswegs Allgemeingut in Südafrika. Vor allem viele Weiße sind immer noch davon überzeugt, daß das System der Rassentrennung doch eigentlich ein gut gemeintes, aber leider gescheitertes Experiment zum Wohle aller war.

Am Ende allerdings wurde die Übergabe des Berichts der Wahrheitskommission an Präsident Nelson Mandela überschattet von parteipolitischem Gezänk. So umstritten wie die Kommission von Anfang an war, so blieb sie bis zum Schluß. Nur drei Stunden vor der geplanten Veröffentlichung in Pretoria war gestern morgen noch nicht klar, ob der Bericht tatsächlich bekannt wird.

Weniger als 24 Stunden zuvor hatte der Afrikanische Nationalkongreß (ANC) eine Bombe platzen lassen: Am Mittwoch abend erklärte die frühere Befreiungsbewegung und heutige Regierungspartei in Johannesburg, daß man eine einstweilige Verfügung gegen den Bericht beantragen werde. Was nun folgte, war eine juristische Posse, mit der der ANC in die Annalen eingehen wird. Denn zum Zeitpunkt der Ankündigung waren weder die notwendigen Papiere beisammen, noch hatte irgend jemand die Kommission informiert. Erst mitten in der Nacht wurde endlich ein Richter in Kapstadt aus dem Schlaf geholt, der die Behandlung allerdings auf den nächsten Morgen verschob.

Das Rätselraten ging weiter, während Kommissionspräsident Desmond Tutu den ANC wütend einer neuen Diktatur bezichtigte: „Ich habe nicht ein Leben lang gegen eine Tyrannei gekämpft, um sie durch eine neue ersetzen zu lassen.“ Am Vormittag endlich kam es, wie es kommen mußte: Die mit heißer Nadel gestrickte Klage wurde niedergeschlagen. Der ANC aber ist doppelt blamiert, hatte doch ausgerechnet der frühere Erzfeind Frederik Willem de Klerk ihn zu dem Antrag auf einstweilige Verfügung inspiriert. Der letzte weiße Präsident Südafrikas nämlich konnte ebenfalls am Mittwoch durchsetzen, daß sein Name im Zusammenhang mit zwei Bombenattentaten der Geheimpolizei aus dem Bericht getilgt wurde. Das versprach Tutu widerstrebend, um eine gerichtliche Auseinandersetzung vorläufig zu vermeiden.

Der ANC indessen war weniger bescheiden und wollte gleich den ganzen Bericht stoppen. Mit ihm, so die stellvertretende Generalsekretärin Thejiwe Mtintso, werde der gesamte Befreiungskampf „kriminalisiert“. Tatsächlich kommen die einstigen Guerillas nicht ungeschoren davon. Konkret wird der ANC mit all seinen Unterorganisationen und Untergrundarmeen „politisch und moralisch“ für „schwere Menschenrechtsverletzungen“ im bewaffneten Kampf verantwortlich gemacht.

Im einzelnen wird ihm vorgeworfen, daß während des Befreiungskampfs Attentate zu schweren Menschenrechtsverletzungen geführt hätten, bei denen unschuldige Zivilisten ums Leben gekommen waren. Einige der Operationen seien schlecht geplant gewesen und fehlerhaft durchgeführt worden. Außerdem habe der ANC mit Landminen Unschuldige getötet. Noch schwerer wiegen die Vorwürfe, daß die Organisation gnadenlos mit mutmaßlichen Verrätern und Überläufern umgegangen sei. In ihren Lagern im Exil folterte und tötete der ANC die angeblichen Kollaborateure.

Eigenartigerweise ist nichts von all dem neu. In seiner mehrhundertseitigen Eingabe vor der Kommission hatte der ANC all dies zugegeben und sogar detailliert Einzelfälle dokumentiert, die bis dahin unbekannt waren. Thabo Mbeki, heute ANC-Präsident und künftiger Präsident des Landes, hatte kollektiv mit der gesamten Parteispitze die Verantwortung für alle Taten übernommen, die im Namen des Befreiungskampfes begangen wurden, und sich ausdrücklich für die Toten entschuldigt.

Schon seit Wochen allerdings ist bekannt, daß der ANC mit den Befunden der Kommission nicht zufrieden ist. Die neue Parteiführung ließ es zu einem scharfen Schlagabtausch mit der Kommission kommen und forderte ein Treffen, in dem sie ihren Standpunkt darlegen konnte. Das allerdings lehnte die Kommission ab, um dem Vorwurf zu entgehen, einseitig zu sein.

Viele ANC-Mitglieder sind bis heute der Ansicht, daß Verbrechen, die im Namen des Befreiungskampfes begangen wurden, weniger schwer wiegen als diejenigen des Regimes. Auch Nelson Mandela hat oft die Meinung vertreten, daß der Zweck die Mittel geheiligt hat. In seiner Rede bei der Übergabe erklärte er gestern allerdings ausdrücklich, daß er den Bericht in der jetzigen Form akzeptiere. In seiner Partei ist er damit nicht mehrheitsfähig.

Die Kommission indessen unterscheidet hier sehr genau. Ausdrücklich widmet sie ein ganzes Kapitel der Frage nach der Moral von Zweck und Mitteln. Zwar wird ausdrücklich betont, daß die Apartheid ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit war und der Kampf gegen sie eine gerechte Sache. Immer wieder wird auch auf die Gewalt verwiesen, die der am meisten prägende Faktor in der südafrikanischen politischen Geschichte gewesen sei. Nicht jedes Mittel aber wird von ihr gebilligt.

Die geschiedene Ehefrau von Nelson Mandela, die selbst jede Verantwortung abgestritten hatte, wird politisch und moralisch verantwortlich gemacht für eine ganze Reihe von Morden, die aus dem Umfeld der Leibgarde heraus begangen wurden. Noch deutlicher wird der Bericht freilich bei dem früheren Präsidenten Pieter Willem Botha, der wegen seiner Weigerung, mit der Kommission zusammenzuarbeiten, bereits einmal vor Gericht stand. In ihrer Zusammenfassung kommt die Kommission zu dem Schluß, daß der Staat in den 80er und 90er Jahren eine ganze Reihe von ungesetzlichen Taten begangen habe, die entweder vom Präsidenten oder einzelnen Regierungsmitgliedern angeordnet worden seien. Ausdrücklich wird Botha beschuldigt, persönlich Bombenattentate der Geheimpolizei auf die Hauptquartiere des Südafrikanischen Kirchenrats und des Gewerkschaftsverbandes angeordnet zu haben. Die entsprechenden Seiten unterscheiden sich allerdings von allen anderen: Sie sind teilweise geschwärzt. Frederik Willem de Klerks Name wurde aus dem Bericht getilgt.