Ein Callgirl aus Amerika

■ Sturschädel unter sich: Tom Murphys „Die Verführung der Moral“ versammelt das obligate irische Personal von Trinkern und Rotznasen

Am Anfang eines neuen Lebens steht oft eine Beerdigung. Vera O'Toole kommt nach langen Jahren der Abwesenheit in ihr Heimatstädtchen Grange in Irland, um dort zusammen mit einem Bruder und zwei Schwestern ihre Mutter zu begraben. Aus vor allem den Geschwistern unerfindlichen Gründen stellt sich heraus, daß Vera, die in New York lebt und sich nie sonderlich um ihr Zuhause gekümmert hat, das Prestigebesitztum der Familie geerbt hat, das Imperial Hotel.

Tom Murphy – der Verlag verschweigt diskret seinen Geburtsjahrgang und teilt lediglich mit, daß der Autor sich 1962 nach Tätigkeit als Lehrer ganz aufs Schreiben verlegt habe – ist einer der bekanntesten Gegenwartsdramatiker Irlands. Mit dem Ausgangsplot seines ersten Romans, den er ohne zwingende Begründung Mitte der siebziger Jahre spielen läßt, schafft er sich eine thematische Konstellation, die es ihm erlaubt, die Geschichte der Familienbande (ein Ausdruck, den Karl Krauss einmal als nur zu treffend apostrophierte) in ihren Details aufzurollen. Wie zu erwarten, kann keiner keinen richtig leiden, das entlaufene Schaf Vera hatte immer schon Zugehörigkeitsprobleme, da sie mit drei Jahren zur Großmutter weggegeben worden war, der Bruder ist raffgierig, die eine Schwester verbiestert, die andere eine Kuh, die sich ständig schwängern läßt von ihrem Mann Henry, der wegen seines geruhsam-hedonistischen Lebensstils von seinen Anwaltskollegen „der Grieche“ genannt wird und mit diesem südlichen Namen exotisches Kolorit ins Provinznest bringt. Ansonsten durchzieht das gewohnte irische Personal das Buch: schräge Vögel, Sturschädel, Schlampen, Trunksüchtige, abgearbeitete Mütter mit einem Schock Rotznasen am Bändel oder ungewaschene Pubwirtinnen, die gebrauchte Messer nicht unterm Wasserhahn, sondern „beim Hund auf dem Rücken“ sauberwischen.

Die Wahrheit erweist sich wie so oft als das Unglaubwürdigste, wenn Vera auf die Fragen nach ihrer Profession in Amerika vor versammelter Trauergemeinde seelenruhig antwortet: „Ich bin Callgirl.“ Allerdings strickt der Autor noch weiter am Bild der ehrlich- ehrbaren Hure, der nur zwei Männer in ihrem Leben etwas bedeuteten. Von dem einen, einer verbotenen Jugendliebe, dem Gelegenheitsarbeiter und schrulligen Einzelgänger Finbar mit dem klassischen Underdog-Charme, will sie nun ein Kind. Murphy erzählt jedoch diese eher drastische Selbstfindungsgeschichte der Erbin Vera in oft rauh-flapsiger, stilistisch bewußt ungelenker Sprache mit viel Sinn für spröden Humor und wissendem Blick für die existentielle Bedeutung winziger Alltagsrituale und die abweisende Kunst der habituellen Schweigsamkeit.

Es dauert seine Zeit, bis dieser Roman, in dem außer einem Begräbnis und einer Versteigerung, der des Imperial Hotels nämlich, nicht viel passiert, sich eine dichte Atmosphäre schafft, bis die literarischen Figuren Konturen annehmen. Dies funktioniert aber dann gerade mittels der rhetorischen Ecken und Kanten der widerborstigen Charaktere mit ihrer schiefen Sprache und dank der sehr eigenwilligen Dynamik irischer Lebensdramaturgie, der auch eine „Verführung der Moral“ nicht viel anhaben kann. Barbara von Becker

Tom Murphy: „Die Verführung der Moral“. Roman. Aus dem Englischen von Friedhelm Rathjen. Haffmans Verlag, Zürich 1998, 36DM.