Nigerias Reichtum lagert unter der Erde, doch die Menschen sind bitterarm. Im Niger-Delta beuten Konzerne die Ölvorkommen rücksichtslos aus. Der Staat läßt die Förderanlagen verrotten, bewaffnete Gruppen sabotieren sie. Ein Funke genügte und setzte auslaufendes Benzin in Brand. Mehr als 500 Menschen starben. Von Dominic Johnson

Programmierte Katastrophe

Es war ein nur allzu alltägliches Unglück. Seit Donnerstag war die Pipeline, die durch das Dorf Jesse im Südwesten Nigerias führt, kaputt. An das Leck kamen immer mehr Leute aus der Gegend, um das herauslaufende Öl aufzusammeln – Benzin und Kerosin sind knapp in Nigeria. Die Menschen hätten zu Hunderten förmlich im Öl gebadet, hieß es in Zeitungsberichten. Dann kam am späten Samstag abend, was kommen mußte: Ein Funken, vielleicht von einer Zigarette oder einem Motorrad, setzte den Badesee aus Öl in Brand. Mindestens 500 Menschen verbrannten lebend, das Feuer breitete sich auf mehrere Dörfer in der Umgebung aus. Erst gestern löschten Shell-Mitarbeiter die letzten Flammen.

Die Staatsfirma PPMC, die für den Öltransport in Nigeria zuständig ist, machte die Menschen für den Unfall verantwortlich. „Es war ein Sabotageakt“, sagte Emmanuel Akhihiero, bei PPMC für Instandhaltung zuständig. Tatsächlich gehört die Zerstörung von Ölanlagen zu den gängigen Protestformen von Bewohnern der nigerianischen Ölfördergebiete gegen Ölkonzerne. Und es erscheint schwer denkbar, daß diese wichtigste Pipeline Nigerias, die Öl aus der südlichen Ölstadt Warri bis in die Millionenstadt Kaduna im Norden des Landes führt und damit praktisch das bevölkerungsreichste Land Afrikas wirtschaftlich zusammenhält, einfach so kaputtgeht.

Nigerianische Umweltaktivisten, die seit langem mit den Ölkonzernen über die ökologischen Auswirkungen der Ölförderung streiten, sind allerdings anderer Meinung. „Es kann keine Sabotage gewesen sein“, erregte sich gegenüber der taz Uche Enyeagucha von der Umweltorganisation Environmental Rights Action. Der Vorwurf sei ein „Eingeständnis des Scheiterns“ seitens des Staates und eine „Lüge, um die eigene Unfähigkeit zu überdecken“. Das wahre Problem liege darin, daß die Pipeline – wie alle in Nigeria – ihre Lebensdauer längst überschritten habe und dringend erneuert gehöre, was aber nicht geschehe.

Auch das ist plausibel. Nigeria hängt am Tropf des Öls, aber kein Land der Welt vernachlässigt seine Ölwirtschaft so sehr wie Nigeria. Das bei der Ölförderung produzierte Erdgas wird achtlos abgefackelt. Die vier Raffinerien des Landes sind alle kaputt, so daß Afrikas größter Ölproduzent sich nicht selbst mit Benzin versorgen kann. Statt dessen wird teurer Treibstoff aus dem Ausland eingeführt und dann auf dem Schwarzmarkt verschoben oder inflationär weiterverkauft.

Wie mittlerweile klar ist, profitierten unter dem verstorbenen Diktator Sani Abacha allerhöchste Kreise von diesem organisierten Diebstahl. Die PPMC, der als Tochter der staatlichen nigerianischen Ölgesellschaft NNPC alle Pipelines und Raffinerien in Nigeria gehören, war möglicherweise Nutznießer der eigenen Misere. Ihr einstiger Direktor Alhaji Harun Abubakar galt als einer der korruptesten Beamten Nigerias. Er war der erste hohe Amtsträger, der vom neuen Militärdiktator Abdulsalam Abubakar nach Abachas Tod am 8. Juni seinen Job verlor. Noch im März hatte sogar er freimütig erklärt, daß die Benzinknappheit in Nigeria zu 85 Prozent auf menschliche Faktoren zurückzuführen sei. Es würde niemanden verwundern, wenn er neben den Raffinerien auch die Pipelines verkommen ließ.

Weil die Raffinerien kaputt sind, war die Pipeline von Warri nach Kaduna im September 1997 von Rohöl auf Benzin umgestellt worden. Mit anderen Worten: Statt, wie eigentlich vorgesehen, ihren Inhalt direkt aus den Ölquellen zu bekommen, hatte die Pipeline nur noch die Funktion eines Versorgungskanals, in den man in Warri Benzin aus Öltankern hineinleitete, das dann 600 Kilometer weiter in Kaduna wieder herauskommen sollte. Die Verantwortlichen hatten zwar nach eigenen Angaben bei der Umstellung den Druck in der Pipeline reduziert, um sie zu schonen – aber die Frage bleibt, wie sachgemäß die Umstellung vorgenommen wurde. Ohnehin lag die Pipeline zum Zeitpunkt des Lecks gerade still, weil aufgrund der schweren Unruhen um den Ölhafen Warri derzeit keine Öltanker mit Importbenzin dort andocken. Als in Jesse das mysteriöse Loch in die Pipeline kam, floß einfach der ruhende Inhalt in die Landschaft.

Den Bewohnern von Jesse nützte das nichts. Das ganze Ausmaß der Katastrophe konnte sich erst ab gestern nachmittag erschließen, als die Flammen gelöscht waren. Der örtliche Militärkommandant, Walter Feghabo, hat ein Massenbegräbnis angeordnet.