■ Schaubilderschau oder Die wirrsten Grafiken der Welt (1)
: Der Vorgang der Wahrnehmung

Des Lebens goldner Baum war grün, und grau war alle Theorie, als ein Deutschlehrer, nennen wir ihn Herrn Germing, in einem Klassenraum des Kreisgymnasiums Meppen vor rund zwanzig Jahren mit schrappender Kreide eine Grafik auf die Tafel malte.

Es ging um einen langweiligen Roman von Friedrich Dürrenmatt. Herr Germing schrieb die Namen der Romanfiguren auf, erläuterte in freier Rede ihre Beziehungen untereinander und malte dabei zwischen die Namen Pfeile, einen nach dem anderen – steile Pfeile, krumme Pfeile, mäandernde, halbkreisförmige, verschlungene und sich überkreuzende Pfeile, bis am Ende der Performance ein wildes, aberwitzig wirres Pfeilknäuel zwischen den Namen zirkulierte. Es erinnerte entfernt an ein Wollknäuel, mit dem eine tobsüchtige Katze gespielt hatte.

Können Knäuel zirkulieren? Herrn Germings Knäuel konnte es. Obwohl dem Knäuel ersichtlich keinerlei Erkenntniskraft innewohnte, wurde es von manchen Schülern mit Fleiß abgezeichnet. Über Dürrenmatts Roman lernte ich damals nichts, doch mir wurde schlagartig klar, welche Funktion verknäuelten Grafiken im Lehr- und Wissenschaftsbetrieb zukommt: Wenn es den Menschen an Durchblick gebricht, können sie immerhin noch bizarre und pfeilreiche Schaubilder konstruieren und damit Durchblick vortäuschen.

So wurde ich zum Schaubildfan. Auf eins der possierlichsten Schaubilder stieß ich vor kurzem in dem von Herbert A. Strauss und Norbert Kampe herausgegebenen Werk „Antisemitismus“ (Campus Verlag, Frankfurt/Main 1985, Seite 20). „Schaubild 1: Der Vorgang der Wahrnehmung“ ist sein Titel, und in einer Fußnote heißt es: „Für die Beratung bei der Gestaltung dieses Schaubildes danken die Autoren Herrn Dr. Reinhard Scheerer, Berlin.“

Das schöne Schaubild zeigt uns den Vorgang der Wahrnehmung in Gestalt einer Art Sanduhr mit sanduhrtypischer Wespentaille. Pfeile gibt es satt, wie es sich gehört, und es gibt sogar, für Genießer, auf Pfeile weisende Pfeile mit entzückenden Aufschriften: „Projektion“, „keine Realitätskontrolle (Wahrnehmungsgang verspiegelt)“.

Es gibt linsenförmige Gebilde namens „reales Objekt“, „Optimum“ und „Normalfall“, eine Gallertmasse namens „Chimäre“ und ein Dreieck namens „naturgesetzl. Bedingungsfaktoren“, und es gibt ein weiteres Dreieck, das die Grafiker auf einen Namen von kaum noch zu verfeinernder Delikatesse getauft haben: „Mischung indiv. u. kultureller Bedingungsfaktoren (vgl. Schaubild 2)“ – ein einzigartiger Leckerbissen für eingefleischte Schaubildfans.

Es versteht sich, daß das Schaubild mit seinen zahlreichen Pfeilen, seinen Linsen und Strichen und Querstrichen und Dreiecken überhaupt nichts veranschaulicht, weder den Vorgang der Wahrnehmung noch sonst irgend etwas. Aber es sieht adrett aus, und es ist anzunehmen, daß sowohl die Grafiker als auch der ihnen beratend zur Seite gestanden habende Dr. Scheerer das konfuse Produkt mit Vaterstolz und Wohlgefallen betrachteten, als es fertig war. Nun steht es herum, auf Seite 20 des zitierten Werks, und zieht mehr Staub auf sich als neugierige Blicke.

Das ist sehr bedauerlich. Immerhin sind wissenschaftlich wertlose Schaubilder ja lustig, und wer sich belustigt, der sündigt nicht.

Leser und Leserinnen, sammelt wirre, törichte und nutzlose Schaubilder ein, wo immer Ihr sie findet! Und schickt sie an die taz, Wahrheit-Redaktion, Kochstraße 18, 10969 Berlin (Bitte nicht vergessen, die Quelle mit anzugeben!). Damit die schönsten und wirrsten Fundstücke endlich einer unvorstellbar breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden können.

Gerhard Henschel