Rechnen mit sieben Unbekannten

Deutschlands größtes Kneipenkollektiv, das Münchner „Ruffini“, wird 20 Jahre alt. Nach fröhlichem Chaos der Gründerjahre gibt es nun Dienstpläne und gestaffelten Lohn  ■ Von Philip Maußhardt

München (taz) – Eigentlich hätte Helmut Maier mal wieder „P-Dienst“. P wie Pakistani. Spüldienst also in der Küche. „Aber ihr seht doch, daß ich die ganze Zeit mit der Presse spreche.“ OK. Helmut darf sich außnahmsweise drücken. Man wird nur einmal 20. Und die meisten Kollektive, in München sowieso, sterben früher. Also ist es in der bayerischen Landeshauptstadt schon etwas Besonderes, wenn von nächster Woche an ein Betrieb mit 25 gleichberechtigten Gesellschaftern ein Jubiläum feiert und auf das hier eher seltene „Prinzip Selbstverwaltung“ anstößt. Dann werden für einen Tag in der Ruffinistraße die Rollen getauscht: Die Stammgäste kochen und bedienen, die Belegschaft tafelt.

Laut Lexikon gab es mindestens drei Ruffinis: Der eine war italienischer Schriftsteller, der andere Kirchenmaler aus Trient und der dritte Mathematiker, der eine Gleichung mit sieben Unbekannten löste. Auf diesen beruft sich die „Ruffini“-Belegschaft, weil sie sich mindestens so sehr wundert wie darüber freut, daß es sie nach 20 Jahren ohne Chef immer noch gibt. „Vielleicht liegt es daran“, sinniert Helmut Maier, „daß wir irgendwann beschlossen haben, die alten Fehler nicht immer wieder neu zu machen.“

Unter dem Dach einer ehemaligen Vorortkonditorei ist aus der anfänglichen Stadtteilkneipe ein kleines Wirtschaftsunternehmen gewachsen mit eigener Bäckerei, Konditorei, Weinhandlung und Lebensmittelgeschäft, das seine Ökoprodukte in der ganzen Stadt ausliefert. Das Kerngeschäft aber ist die Gaststätte geblieben, deren Betreibern es auch in zwei Jahrzehnten gelang, jeden Schickimicki-Angriff zurückzuschlagen. Wer nicht glaubt, daß Alt-68er in München überlebten, hier kann er ihnen täglich in die müder gewordenen Augen schauen. „Keine Porsches röhren vor Euren Fenstern“, schrieb gerührt der Hausliterat Joseph von Westphalen jetzt zum Geburtstag. (Aber Volvo ist ja auch keine schlechte Marke).

Gründungsopa Roland Unger, als einziger übrig geblieben aus der Gründungsgeneration, hat in den zurückliegenden Jahren an die 300 Gesellschafter kommen und wieder gehen gesehen. Denn trotz Krisensitzungen in Italien und Supervisern bei der Vollversammlung – das fröhliche Chaos in kollektiver Verantwortung hat viele in die Flucht getrieben. Längst gibt es „Dienstpläne“ und einen „geschäftsführenden Ausschuß“. Und weil der Chef fehlt, müssen Kellner, Köche und Konditoren nach Feierabend auch noch in ihren „Bereichsgruppen“ oder auf „Delegiertensitzungen“ die Menüfolge der nächsten Wochen besprechen oder die Farbe der Sonnenschirme diskutieren. Auf 40 Arbeitsstunden in der Woche kommt da ein(e) Gesellschafter/In leicht, und das bei 19 Mark brutto die Stunde.

Macht am Monatsende einen Verdienst, „mit dem man in München eingermaßen anständig leben kann“, sagt Ursula Beck, seit acht Monaten im Kollektiv und damit dienstjüngstes Mitglied. Wenn sie nach ihrer einjährigen Probezeit dabeibleibt, kommt sie in wenigen Monaten zum ersten Mal in den Genuß der „Treueprämie“. Nach heftigen Kontroversen hat die Vollversammlung vor kurzem für jedes Jahr Betriebszugehörigkeit eine Gehaltserhöhung von 20 Pfennig pro Stunde durchgesetzt. Ein vor Jahren noch undenkbarer Vorgang. Urgestein Roland verdient darum vier Mark mehr als die Neueinsteigerin Ursula.

Es hat sich eben nicht nur der Service verändert, ein Wort, das man noch zu Beginn des „Ruffini“ dem Sprachschatz des Klassenfeinds zuschrieb und darum lieber vermied. Auch fahren keine gemieteten Omnibusse mehr vom „Ruffini“ zur Anti-AKW-Demonstration nach Wackersdorf. Doch nicht alles darf man nur dem Personal ankreiden. Auch das Publikum hat seinen Teil dazu beigetragen, daß die Selbstverwaltungs-GmbH heute über die Knoblauch-Dosierung eines Bruschetta leidenschaftlicher diskutiert als über die rot-grüne Steuerreform.

Wo Daimler-Benz seine Hierarchie-Ebenen abbaut, ist eben auch das repressionsfreie Arbeiten in einem selbstverwalteten Betrieb irgendwie normaler geworden. Es kommt jedenfalls nicht mehr vor, versichert Helmut Maier, daß man das Frühstücksbuffet am Sonntag vormittag nur deswegen einstellt, weil es so gut gelaufen ist und die Belegschaft sich den Streß ersparen wollte. „So etwas können wir uns in diesen Zeiten nicht mehr leisten.“