Alle Räder stehen still

Die Senatsverkehrsverwaltung hat einen Bericht auf Eis gelegt, der die derzeitige Verkehrspolitik in Frage stellt  ■ Von Volker Wartmann

„Das Ziel eines weitgehend von Bus und Bahn geprägten Innenstadtverkehrs trägt der Verkehrssenator wie eine Monstranz vor sich her“, sagt ein Mitarbeiter der Senatsverwaltung, der nicht namentlich genannt werden möchte. „Bei jeder Gelegenheit wird sie hochgehalten, mehr passiert aber nicht.“

Selbstauferlegtes Ziel der Senatspolitik ist, daß das Verhältnis zwischen öffentlichem Personennahverkehr (ÖPNV) und dem motorisierten Individualverkehr (MIV) im Bereich der Innenstadtzentren in absehbarer Zukunft 80 zu 20 betragen soll. Das hat das Abgeordnetenhaus 1991 beschlossen. Das Manko dieser Zielvorgabe ist, daß sie lediglich als Wunsch formuliert wurde: Weder konkrete Maßnahmen noch ein Zieljahr, das erreicht werden soll, sind damals festgelegt worden. Die SPD hat sich seinerzeit mit der Festschreibung dieser lediglich vagen Formulierung von der CDU die Zustimmung zum Bau des Tiergartentunnels abtrotzen lassen. „Anfang der 90er Jahre lag das Verhältnis zwischen ÖPNV und MIV bei 40 zu 60. Das heißt, um das Senatsziel zu erreichen, müßte der Autoverkehr um zwei Drittel gesenkt werden bei gleichzeitiger Verdoppelung des ÖPNV“, sagt Michael Cramer, verkehrspolitischer Sprecher von Bündnis 90/ Die Grünen. „In den neunziger Jahren hat der Autoverkehr jedoch weiter zugenommen, und die Fahrgastzahlen bei der BVG sind in diesem Zeitraum um ein Viertel gesunken.“

Im Juni 1994 beauftragte das Abgeordnetenhaus den Senat, „zügig einen Stadtentwicklungsplan Verkehr zu erarbeiten“. Unter Federführung der Senatsverkehrsverwaltung und mit Beteiligung der Umwelt- und Stadtentwicklungsverwaltung wird seit Anfang 1997 in einer Workshop- Reihe mit Experten an einem Entwurf für den Stadtentwicklungsplan Verkehr gearbeitet. Die 1997 vereinbarte Vorgehensweise wurde von der Senatsverkehrsverwaltung im Juni 1998 verlassen. „Der vereinbarte gemeinsame Bericht an das Abgeordnetenhaus wird von der Senatsverkehrsverwaltung erst mal auf Eis gelegt“, so Hermann Blümel, Verkehrsexperte bei der Senatsumweltverwaltung.

Seit mehreren Monaten liegen erste Zwischenergebnisse vor, deren Veröffentlichung von der Senatsverkehrsverwaltung verschleppt wird. „Ein erster Teilbericht, der dem Abgeordnetenhaus schon im vergangenen Herbst vorgelegt werden sollte, wird von der Senatsverkehrsverwaltung blockiert“, sagt Felix Beutler, Sprecher des Arbeitskreises Verkehr beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND). „Die Ergebnisse werden der Öffentlichkeit und dem Parlament vorenthalten, weil der Verkehrssenat zugeben müßte, daß mit der derzeitig praktizierten Verkehrspolitik das Senatsziel von 80 zu 20 nicht erreicht werden kann.“

Als Zwischenergebnisse liegen zwei Szenarioberechnungen für das Jahr 2010 vor, für die unter der Annahme gleicher Rahmenbedingungen unterschiedliche Maßnahmenbündel mit einem Computermodell durchgerechnet wurden. Beide Szenarien sind politisch und verkehrstechnisch machbar und orientieren sich am verfügbaren Finanzrahmen Berlins.

Das von der Senatsumweltverwaltung favorisierte „Szenario A“ setzt auf einen Maßnahmenmix aus Förderung des ÖPNV und Abbau der Privilegien für den Autoverkehr. Zur Verbesserung des ÖPNV werden beispielsweise die Verdichtung der Taktzeiten auf allen Linien sowie der verstärkte Ausbau der Straßenbahn vorgeschlagen. Zur Attraktivitätsminderung des Kfz-Personenverkehrs sieht dieses Szenario Maßnahmen wie Parkraumverknappung und -verteuerung, Ausdehnung der Tempo-30-Regelung auf nahezu alle innerstädtischen Straßen und die Reduzierung überbreiter Straßen auf maximal zwei mal zwei Fahrspuren vor. Im Infrastrukturbereich liegt der Schwerpunkt auf mehr Straßenbahn- und S-Bahn- Ausbau, zu Lasten von Straßen- und U-Bahn-Neubau. Blümel: „Für die Umsetzung dieses Szenarios ist ein Wertewandel in der Verkehrspolitik notwendig.“

Die Senatsverkehrsverwaltung bevorzugt ein Szenario (Szenario B), das die bisherige Verkehrspolitik weitgehend fortschreibt. Kostenintensive U-Bahn-Neubauten, mehr Straßen und ein Verzicht auf steuernde Maßnahmen zur Dämpfung des Verkehrswachstums kennzeichnen dieses Senario.

Laut Szenario A könnte das politisch einvernehmliche Ziel eines Verhältnisses von 80 zu 20 zwischen ÖPNV und MIV im zentralen Bereich mit 86 zu 16 deutlich bertroffen werden. Selbst im Innenstadtbereich des sogenannten „kleinen Hundekopfs“ würde das geforderte Verhältnis noch nahezu erreicht. Im Szenario der Senatsverkehrverwaltung läge das Verhältnis zwischen ÖPNV und MIV im zentralen Bereich nur bei 68 zu 32 und damit weit über der vom Abgeordnetenhaus beschlossenen Vorgabe. Sollte das von der Senatsverkehrsverwaltung präferierte Szenario Wirklichkeit werden, würde sich die Zahl der Einwohner, die nachts von Verkehrslärm über 55 Dezibel betroffen sind, um fast 40 Prozent erhöhen. Im Falle des anderen Senarios mit Tempo 30 auf fast allen Straßen würde sich diese Zahl um rund die Hälfte auf etwa 100.000 Menschen verringern. „Die Verkehrbelastungen machen für viele Menschen das Leben in der Stadt nicht mehr erträglich“, so Verkehrsexperte Blümel. „Sie ziehen ins Umland, und Berlin gehen dadurch viele Steuermillionen verloren.“

„Das Szenario der Senatsumweltverwaltung zeigt deutlich auf, daß eine Wende der Berliner Verkehrspolitik die Mobilität aller Bürgerinnen und Bürger sichert, gleichzeitig aber die Gesundheits- und Umweltbelastungen deutlich reduziert“, so BUND-Mitarbeiter Beutler. „Auch der Wirtschaftsverkehr profitiert von diesem Szenario.“ Dennoch unterstützt der BUND das von der Umweltverwaltung favorisierte Szenario nicht vorbehaltlos. „Das Szenario der Umwelt- und Stadtentwicklungsverwaltung ist eine gute Diskussionsgrundlage. Dennoch enthält es Bauprojekte, die wir ablehnen“, sagt Beutler. „Dazu gehören der Weiterbau der Stadtautobahn A 100 zur Anschlußstelle Treptower Park und der Bau der Teltowkanal-Autobahn A 113.“ Zudem werde der umweltschonende Fahrrad- und Fußverkehr in den Maßnahmen nur marginal behandelt.

Grünen-Sprecher Cramer: „Berlin braucht endlich ein Konzept, dessen Ergebnisse jährlich nachgeprüft werden können.“