■ Auf Augenhöhe
: Neuköllner Lektionen

Der 15jährige Aldoni aus dem Baskenland ist in dem Glauben aufgewachsen, die Deutschen seien penibel und sauber. Doch nach knapp zwei Monaten als Austauschschüler in Berlin denkt er anders darüber. Dabei war alles mit deutscher Gründlichkeit vorbereitet gewesen: Die Austauschorganisation hatte ihm versichert, seine Gastfamilie habe nicht nur ein schönes Zuhause, sondern es würde auch gleichaltrige Kinder mit sportlichen Neigungen geben. Das war wichtig, denn Aldoni ist leidenschaftlicher Fahrradfahrer.

Doch als er bei seiner Gastfamilie ankam, verstand er nur noch spanisch. Sein neues Zuhause befand sich in Neukölln, dem Eldorado der Sozialhilfeempfänger. Die Dichte von Austauschschülern dürfte dort äußerst gering sein – es sei denn, finanzielle Engpässe lassen keine andere Wahl.

Jeden morgen auf dem Weg zum Deutschkurs kam er an Trödelläden vorbei, in die nur selten jemand den Fuß setzt – außer seiner Gastmutter. Voller Stolz brachte sie eines Tages einen halbverrosteten Schneebesen und ein weiteres Küchenutensil nach Haus, das sie für nur eine Mark gekauft hatte.

Die Parterrewohnung der Endvierzigerin ist mit „liebevoll zugemüllt“ treffend beschrieben. An der feuchten Kälte dagegen war sie schuldlos. Die Außenwände. Leider vergaß die Gastmutter, die im Dauerclinch mit ihrem Vermieter liegt, in ihrer Begeisterung für lateinamerikanische Sänger der 70er Jahre und kränkelnde Katzenbabys, sich richtig um ihren Austauschschüler zu kümmern. Irgendwie verständlich auch. Sie befindet sich gerade in der xten Umschulung. Außerdem muß sie sich um ihre 16jährige Tochter kümmern, die gerade eine schwierige pubertäre Phase durchmacht. Der Sohn lebt größtenteils bei dem türkischen Vater. Aldoni vermutet dahinter hygienische Gründe. Er mußte vorliebnehmen mit der Tochter, die wegen einem verkrüppelten Bein mit Sport nichts am Hut hat und lieber Friedrich Dürrenmatt liest.

Der junge Spanier war zwar überrascht über seine zeitweiligen Lebensumstände, zumal seine Eltern etwa 2.000 Mark für seine Deutschlandbildung hingeblättert hatten. Doch er nahm's wie ein Mann. Sein Trost war die Deutsch- Schule in Kreuzberg, an der er jeden Tag drei Stunden Unterricht hatte und auf der er sich mit einem Argentinier angefreundet hatte, der ihn öfter zu sich nach Hause einlud.

Mit Ausreden gelang es Aldoni, zumindest den unerträglichsten Situationen zu entgehen. Fuhr die Mutter mit der Tochter und dem versifften Lieferwagen in das Wochenendhäuschen an der Ostsee, täuschte er Übelkeit vor, um nicht hinten sitzen zu müssen. Denn nicht nur die Matratze dort roch kräftig, auch die Strümpfe der Tochter hatten seit Wochen keine Waschmaschine mehr von innen gesehen. Doch auch eine Wäsche hätte nur wenig geholfen. Aldoni wußte, daß seine Gastmutter „aus ökologischen Gründen“ kein Waschpulver benutzte. All die Sachen, die sie aus finanziellen Gründen nicht kaufen konnte, ließ sie mit dieser Begründung weg.

Nur gelegentlich begehrte Aldoni auf. Als er beispielsweise eines Morgens gegen fünf Uhr von lautem Stimmengewirr geweckt wurde. Die Familie hatte einen Todesfall zu beklagen. Das Katzenbaby, das die finanzschwache Familie wenige Tage zuvor für sechzig Mark gekauft hatte, war tot. „Wir müssen die Katze doch beerdigen!“ erklärte die Gastmutter dem verschlafenen Spanier, der mit ansehen mußte, wie die vorher kränkliche und nunmehr tote Katze mehr Zuneigung bekam, als er während seines ganzen Aufenthaltes erfahren hatte. Barbara Bollwahn