„Wer den Mund aufmacht, muß bezahlen“

Im Malaysia des Dr. Mahathir haben die Visionen der Moderne tiefe Risse. Die Verhaftung des entlassenen Vizepremiers Anwar vereint die unterschiedlichsten Kritiker gegen den allmächtigen Regierungschef  ■ Aus Kuala Lumpur Jutta Lietsch

Gegenüber vom Gerichtshof mit seiner Mischung aus britischer Kolonialarchitektur und orientalischen Zwiebelformen liegt der „Freiheitsplatz“. An der Fahnenstange, angeblich die höchste der Welt, weht die blauweißrote Nationalflagge Malaysias mit Stern und Mondsichel. Dies ist das symbolische Zentrum des neuen Malaysia, wie Premierminister Mahathir Mohamad es sich wünscht: ein Staat, der sich aus der kolonialen Vergangenheit befreit hat und dessen Bevölkerung seinem Führer dankbar ist, weil er sie aus der Rückständigkeit ins 21. Jahrhundert katapultiert.

Die Skyline Kuala Lumpurs spiegelt Mahathirs Visionen wider. Die gigantischen Zwillingstürme der Ölgesellschaft Petronas, der Fernsehturm, gläserne Kaufhauspaläste und Hochstraßen künden davon, daß Malaysias Hauptstadt den Metropolen der Welt ebenbürtig ist. Doch auf die Dankbarkeit der Untertanen ist in diesen Tagen nicht mehr Verlaß. Seit der 73jährige Regierungschef seinen Vizepremier Anwar Ibrahim in Schimpf und Schande aus dem Amt jagte, ihn ins Gefängnis warf und ihm im Gerichtsgebäude am Freiheitsplatz den Prozeß machen läßt, regt sich Widerstand.

Freitag nachmittag hat es den Dichter Salleh Ben Joned nach dem Gebet in der Nationalen Moschee in das „Coliseum-Café“ verschlagen. In den seit Jahrzehnten kaum veränderten Räumen servieren ebenso uralte wie grimmige Kellner Bier und Steak. Es herrscht die Atmosphäre tropischer Boheme. Die „reine Neugier“, sagt Salleh, trieb ihn heute zur großen Moschee, obwohl sein Sohn ihn gewarnt hatte: In den Straßen schwirrten Gerüchte, die Gläubigen könnten die Zeremonie zu einer Demonstration gegen die Regierung umfunktionieren.

Es ist erst wenige Tage her, als Malaysias politische Krise einen neuen Höhepunkt erreichte: Als die Polizei Ex-Vizepremier Anwar wegen angeblicher Homosexualität und Korruption einer Richterin vorführt, hat er einen schweren Bluterguß ums Auge. Selbst bislang Unpolitische sind entsetzt, als Regierungschef Mahathir daraufhin behauptet, nicht etwa Polizisten hätten Anwar verprügelt, sondern der habe sich womöglich selbst verletzt, um die Behörden zu verleumden.

Doch an diesem Freitag bleiben die erwarteten Proteste aus. So genießt der 57jährige Salleh, der für seine respektlosen Werke bekannt ist, ein Bierchen im „Coliseum“, und trägt sein jüngstes Gedicht vor: „Warum schätzen die Leichtgläubigen das Erbrochene der Schlange? Weil alter Aberglaube es sie lehrte. Unser charmanter Anwar ein verräterischer Schwuler? Die Patrioten schwören es, also muß es wahr sein.“

„Wann ist ein Kabinett besonders wertvoll? Wenn man Leichen zu verbergen hat. Wenn ein Vizepremier entbehrlich wird. Wenn der Premierminister sagt, er sei ein Jekyll und Hyde.“ Der Dichter grinst, schiebt seine Kappe über dem grauen Haar zurecht und läßt sich ein neues Glas bringen.

Der Zorn über Anwars Verhaftung vereint mittlerweile ein buntes Gemisch von Kritikern: von Oppositionsparteien über Bürgerrechtsgruppen bis zu islamischen Verbänden und Künstlern wie Salleh. „APA?“ nennt sich zum Beispiel die „Extrem weitreichende Künstlergemeinschaft“, eine der schillerndsten kritischen Gruppen, in der sich 60 SchauspielerInnen, Maler, Fernsehpersönlichkeiten, ArchitektInnen und andere Freigeister zusammengeschlossen haben. „Apa?“ heißt zugleich: „Was?“. „APA?“ beschäftigt sich, so sagen die Organisatoren, „vor allem mit dem wichtigen Recht, Fragen zu stellen“ – besonders jetzt, „nach den Ereignissen der letzten Wochen, die unser Blut in Wallung gebracht haben“.

In einer Jazzkneipe im Vorort Damansara, wo sich edle Villen an grüne Hügel schmiegen und wo sowohl Premier Mahathir als auch der gefeuerte Anwar ihr Haus haben, weist eine junge Schauspielerin lächelnd auf ihren gelben Sticker an der Bluse, auf dem ein schwarzes Fragezeichen prangt. „Alles wissen, was gemeint ist“, sagt sie. Tausende Postkarten mit dem großen Fragezeichen haben sie schon verteilt. „What's up, Doc?“ – „Was ist los, Doc?“ steht drauf. Die Adresse des Empfängers ist vorgedruckt: die Residenz von Dr. Mahathir Mohamad. Das ist eine bittere Entwicklung für den seit 17 Jahren amtierenden Regierungschef, der es bislang stets verhindern konnte, daß sich die Opposition über politische und ethnische Grenzen verbindet.

Jetzt sitzen auf dem Podium im Hauptquartier der strengen Panmalaysischen Islam-Partei (PAS) neben Vertretern von muslimischen Organisationen auch Repräsentanten liberalerer Oppositionsparteien, die sich stets gegen eine Islamisierung der Gesellschaft gewendet haben. Besonders die chinesische Minderheit, gut dreißig Prozent der Bevölkerung, fürchtete sich vor der Radikalität der PAS, die im Bundesstaat Kelantan für Männer und Frauen getrennte Supermarktkassen einführte. Doch nun rufen die Redner gemeinsam vor Tausenden von Zuhörern nach Gerechtigkeit und dem Ende des berüchtigten Internen Sicherheitsgesetzes, nach dem Mahathir Anwar und andere ohne richterlichen Haftbefehl wegsperren ließ.

„Wenn man in Malaysia den Mund aufmacht, dann weiß man, daß man den Preis dafür zahlen muß“, sagt der Vizevorsitzende der oppositionellen „Democratic Action Party“, Tan Seng Giaw. Der Hautarzt und langjährige Parlamentsabgeordnete ist ein bescheiden auftretender Herr im dunklen Anzug und rosa Hemd. Er weiß, wovon er spricht: Bei der letzten großen Verhaftungswelle vor elf Jahren wurde er selbst Opfer des Sicherheitsgesetzes. Bereits damals sah Mahathir seine Macht bedroht und ließ über 100 vermeintliche Gegner aus allen politischen Parteien einsperren.

„Noch am Tag zuvor“, erinnert sich Tan, „war ich bei Dr. Mahathir gewesen, und wir haben uns freundlich unterhalten.“ Es gab keinen Hinweis, daß der Premier ihn längst auf die schwarze Liste gesetzt hatte. Nach sieben Monaten Haft wurde Tan ebenso unversehens wieder freigelassen – ohne Anklage und ohne Urteil. Entschuldigt hat sich Mahathir, „mit dem ich ab und zu spreche“, nie.

Dr. Tan wurde wieder Abgeordneter auf den Oppositionsbänken im Parlament, in dem die Regierungskoalition „Barisan Nasional“ 80 Prozent der Sitze hat. „Ich hoffe, daß das Interne Sicherheitsgesetz bald abgeschafft wird“, sagt er milde. Und am Ende fügt er hinzu, er habe „meinem Freund Anwar immer geraten, geduldig zu sein“. Denn der alte Mahathir werde sich nicht verdrängen lassen. „Anwar hätte nur noch ein paar Jahre warten müssen“.

Doch Anwar wollte nicht mehr warten. Er beging eine Todsünde, indem er das malaysische Wirtschaftssystem in Frage stellte, das unter Mahathir zur „Malaysia AG“ geworden war. Dahinter stand die Vision des Premiers, eine Klasse von malaysischen Unternehmern zu schaffen, die den traditionell starken chinesischen Kaufleuten in Malaysia ebenbürtig oder gar überlegen war.

Gezielt förderte Mahathir eine Gruppe von seiner Ansicht nach vielversprechenden malaysischen Firmen. Sie erhielten den Zuschlag für den Bau von Straßen, Häfen oder Flughäfen. Öffentliche Ausschreibungen waren nicht üblich.

Die „Malaysia AG“, schreibt das Asian Wall Street Journal, umfaßt ein „feingesponnenes Netz von Privilegien und Verpflichtungen“ der Konzerne, die an den nationalen Projekten beteiligt wurden. Auch Anwar, der vor seiner Verhaftung mit feurigen Reden Vetternwirtschaft und Korruption verdammte, war Teil dieses Patronagesystems: Er hatte sich bei seinem Aufstieg in der Partei- und Regierungshierarchie mit einflußreichen Geschäftsleuten umgeben, die er begünstigte und die ihn dafür unterstützten.

In ihrer Villa in der Setiamurni- Satu-Straße 8 von Damansara empfängt die Frau Anwars nach dem Abendgebet ihre Besucher. Wan Azizah Ismail hat die Führung der „Reformasi“-Bewegung ihres Mannes übernommen. Seitdem die Polizei das Grundstück nicht mehr abriegelt, kommen wieder die Sympathisanten, übergeben Blumen und Obstkörbe.

Doch es sind nicht mehr Hunderte, die sich wie in den ersten Tagen nach der Verhaftung Anwars vor ihrem Haus drängen. Die Einschüchterung wirkt. Bereits viermal ist die zierliche Augenärztin, die stets ein Kopftuch trägt, selbst von der Polizei vorgeladen worden. Grund für die wiederholten Verhöre: Sie hat den Verdacht geäußert, Anwar könne mit dem HIV-Virus infiziert werden, um den Vorwurf des unmoralischen Lebenswandels zu untermauern.

„Fragen Sie nicht konkret nach Reformen“, bittet sie lächelnd in ihrem Empfangszimmer mit der dunklen Schrankwand voller Flugzeugmodelle und dem gerahmten Koranspruch an der Wand. „Ich komme gerade vom Polizeirevier, und ich sage ihnen, die lassen nicht mit sich spaßen.“ Was sie konkret vorhat, bleibt im dunkeln: „Das kann ich ihnen nicht verraten.“ Vage ist auch die Zukunft der Oppositionsbewegung, die ihr Mann kurz vor seiner Verhaftung um sich zu scharen versuchte, als er seinen langjährigen politischen Förderer Mahathir vom Thron stoßen wollte. Ein politisches Programm war das noch nicht.

Anwars Prozeß beginnt am 2. November. Niemand rechnet damit, daß er milde davonkommt: Im schlimmsten Fall drohen ihm 20 Jahre Haft und etliche Stockschläge. Vielleicht wird Mahathir seinen Beratern folgen, wenn sie ihm von Hieben für Anwar abraten: Für das von Mahathir angestrebte Bild eines modernen Malaysia wäre das wenig förderlich. Die Regierung hat bereits eine neue Image-Kampagne angekündigt, um den, wie Mahathir fest glaubt, von ausländischen Medien bösartig verzerrten Ruf seiner Regierung zu retten.

Schon jetzt wird das von wirtschaftlicher und politischer Krise verunsicherte Volk täglich mehrfach mit einem Werbespot im Fernsehen berieselt, der zu schönsten Hoffnungen über die Zukunft berechtigt: „Eine dunkle Wolke hängt über Malaysia“, erklärt eine ebenso glatte wie sonore Männerstimme, während die Kamera über die Silhouetten von Funkturm, Wolkenkratzern und Baukränen schwenkt. Doch keine Panik: Die schweren Rückschläge würden überwunden – „in angemessener Zeit.“ Und dann verspricht die Stimme kraftvoll: „Malaysia – bullish on bouncing back“, was frei übersetzt soviel heißt wie: „Wir sind bald wieder wer.“