"Den Toleranzbogen spannen"

■ In allen westeuropäischen Ländern ist die Einwanderung ein entscheidendes normatives Problem. Doch wer macht die Normen, schreibt die Rollen? Der US-Wiener Kulturkampfanalytiker Peter L. Berger über kulturelle

taz: Mit dem Titel Ihres Berichts „Die Grenzen der Gemeinschaft“ haben Sie ganz gezielt eine Analogie zum ersten, berühmten Club- of-Rome-Bericht, den „Grenzen des Wachstums“ gewählt. Darin ist von „kulturellen Ressourcen“ die Rede. Kann man Kultur tatsächlich mit einer natürlichen Ressource vergleichen, die man in der Tasche hat oder nicht?

Peter L. Berger: Das ist eine Metapher, und man sollte sie nicht zu ernst nehmen. Aber trotzdem: Die Absicht war, eine Parallele zum ursprünglichen Club-of- Rome-Bericht zu ziehen. Auch wenn dieser damals in vielerlei Hinsicht falsch war, hat er doch die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, daß die natürlichen Ressourcen nicht unendlich sind. Die kulturellen Ressourcen sind auch nicht unendlich. Man kann sich nicht darauf verlassen, daß die Werte, die einmal die Gesellschaft zusammengehalten haben, einfach weiterbestehen. Man muß fragen: Was sind diese Werte heute? Das ist keine mechanistische Aufstellung. Aber es ist doch nützlich, das einmal so zu formulieren.

Wenn es um normative Konflikte in der Gesellschaft geht, beschäftigen die Beteiligten sich gerne mit den Fundamentalismen der anderen statt mit den eigenen. Nehmen wir die baden-württembergische Kopftuchfrage: Anstelle dem pluralistischen Diktum der Toleranz, etwa in der Frage der Religionsfreiheit, zu folgen, wurden hier kulturelle Unterschiede konstruiert. Das heißt: Die, die eigentlich seine Vertreter sein sollten, definieren Pluralismus paradoxerweise nur noch durch dessen Grenzen.

In allen westeuropäischen Ländern ist die Einwanderung ein sehr entscheidendes normatives Problem. Ich habe letztes Jahr einen Vortrag in Österreich gehalten und das Grundproblem dort so definiert: Man muß sich darüber klarwerden, was ein schwarzer Tiroler ist. Und damit meine ich nicht einen Tiroler, der die Österreichische Volkspartei wählt, sondern einen Tiroler mit schwarzer Hautfarbe. Jemand, der in Innsbruck geboren und österreichischer Staatsbürger ist und nur Deutsch spricht, mit Tiroler Akzent: Was ist dieser Mann?

Diese Frage führt dann aber direkt zur nächsten: Was ist denn eigentlich ein Österreicher? Wer sind wir? Also wie wird die Gemeinschaft, die im Nationalstaat verkörpert ist, definiert? Und das ist keine Frage für verrückte Faschisten von rechts außen, sondern eine Frage, die die ganze Gesellschaft beantworten muß. Ist die deutsche Kultur fähig, eine andere Religion, die außerhalb der Geschichte dieses Landes gestanden hat, einzuverleiben oder nicht? Die Parole, Deutschland sei kein Einwanderungsland, ist eine illusionistische Rhetorik. Deutschland ist ein Einwanderungsland und wird es auch bleiben, schon aus wirtschaftlichen Gründen. Ich würde sagen, daß es im westlichen Europa ganz besonders wichtig ist, daß der Islam akzeptiert wird als Bestandteil dieser Kultur. Das bedeutet eine erhebliche Modifizierung der Vorstellungen, die aus der Vergangenheit kommen. Eine Erweiterung des Toleranzgedankens, der sich zuerst auf die verschiedenen christlichen Religionen erstreckt hat. Die Idee, daß Katholiken und Protestanten friedlich in einem Staatswesen zusammenleben können, ist ja eine relativ neue Idee. Kann dieser Toleranzbogen also weiter gespannt werden: Kann jemand, der sich jeden Tag fünfmal nach Mekka wendet und betet, sich auch als Deutscher fühlen? Wenn das nicht gelingt, dann wird es eine permanente Gruppe innerhalb der Gesellschaft geben, die diese Gesellschaft als feindseilig betrachtet.

Sie gehen davon aus, daß es so etwas wie eine „deutsche Kultur“ gibt. Man könnte da einwenden: „Die Kultur“ existiert nicht (mehr), wir haben es heute vielmehr mit „Erlebnismilieus“ zu tun oder „Mikrokulturen“ oder, ganz überspitzt und postmodern gesagt: Womöglich ist jeder seine eigene Kultur?

Das ist wieder eine Illusion auf der linken Seite, der Multikultis. Natürlich gibt es eine Kultur. Man muß nur von Frankreich nach Deutschland fahren, um sofort zu bemerken, man ist in einem anderen kulturellen Bereich. Es gibt eine deutsche Kultur. Die Frage ist, was sind die Grenzen dieser Kultur. Wie wird sie definiert, wie wird sie verstanden, und was sind die Werte, mit denen man nicht bereit ist, einen Kompromiß zu schließen?

Geben Sie ein Beispiel.

Die Kopftuchgeschichte ist zuerst in Frankreich ausgebrochen. Da ging es nicht um Lehrerinnen, sondern um Schülerinnen, und wie die Franzosen – zuerst jedenfalls – reagiert haben, war nicht sehr gescheit. Daß kleine Mädchen, die mit dem Kopftuch in die Schule gehen, die Republik dadurch gefährden, halte ich für einen Unsinn. Kurz danach kam eine ganz andere Frage auf in Frankreich, nämlich die Frage sogenannter weiblicher Beschneidung. Was ein Euphemismus ist: Es ist keine Beschneidung, sondern eine Verstümmelung. Und da haben Gerichte entschieden, das ist nicht erlaubt. Hebammen und auch Eltern wurden verurteilt. Das halte ich für völlig richtig. Was heißt das? Man entscheidet sich: Es gibt bestimmte europäische, westliche Vorstellungen über die Menschenrechte, über die Unantastbarkeit der menschlichen Person. Wie etwa im Grundgesetz: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Ein kleines Mädchen zu verstümmeln ist einfach nicht akzeptabel, egal, was die religiösen Motive sein mögen. Das ist eine ganz andere Frage als die des Kopftuchs. Aber diese Art von Unterscheidung zu treffen ist die Herausforderung des Pluralismus. Das kann nur geschehen durch einen öffentlichen Dialog. Und dann ist die Frage, welches sind die Institutionen, die diesen Dialog verantwortungsvoll tragen können...

Hat der Trend zur Individualisierung von Weltbildern, den die eher postmodern orientierten Soziologien ausmachen, nicht auch ihren Grund in den Informationstechnologien, in flexibler Arbeit auf der Basis digitaler Kommunikationssysteme? Und fördert diese Tendenz zu Mobilisierung und Individualisierung umgekehrt das Bedürfnis nach Gemeinschaft?

Das mag auch an der Technologie liegen, ist grundsätzlich aber schon im Pluralismus angelegt. Dadurch, daß die Selbstverständlichkeit gemeinsamer Werte durch die moderne Entwicklung in Frage gestellt wird, hat der einzelne viel mehr Flexibilität, man kann auch sagen: mehr Freiheit. Da ist schon etwas dran, wenn man sagt: Jeder macht sich die eigene Kultur. Insofern, als der einzelne heute die Möglichkeit hat, sich selbst ein Weltbild und seinen Lebensstil zusammenzubasteln, wie es früher viel schwerer war. Aber damit ist der einzelne auch überfordert, jedenfalls die meisten einzelnen sind damit überfordert. Dadurch entsteht eine gewisse Dialektik zwischen dem Taumel der Freiheit einerseits, sich seinen eigenen Lebensstil konstruieren zu können, und der gewaltigen Sehnsucht nach einer objektiven Ordnung, weil man sich durch diese Freiheit überfordert fühlt. Diese Dialektik sieht man überall.

Wenn man mit Blick auf den Bericht an den Club of Rome generell eine Frage an die Sozialwissenschaft herantragen würde, dann wäre es vielleicht die folgende: In der Tradition von Foucault und im Sinne der Diskursanalyse könnte man fordern, nicht nur festzustellen, daß es diese oder jene Konstruktion gibt, sondern diese Konstruktion auch kritisch zu hinterfragen.

Ich würde bestimmt nicht mit Foucault arbeiten. Der Grundfehler dieser postmodernen Theorie, für die Foucault ja ein wichtiger Vertreter ist, liegt in der marxistischen Vergangenheit der meisten dieser Leute: Nämlich ihr Glaube, daß alle menschlichen Beziehungen Beziehungen der Macht bzw. der Machtlosigkeit sind. Und das ist – glaube ich – eine Fehlinterpretation. Macht ist sehr wichtig, aber es gibt sehr viele Faktoren in der Gesellschaft, die nicht durch Macht bestimmt sind. Bevor diese Studie begonnen hat, haben Thomas Luckmann und ich ein kleines Buch für die Bertelsmann Stiftung geschrieben über Sinn und Pluralismus in der modernen Gesellschaft. Und dort haben wir versucht, genau diese Frage anzugehen, aufgrund unserer früheren Position. Da kann man einiges sagen, was über pragmatische Fragen hinausgeht. Das Grundthema für mich ist dabei der Pluralismus: Wieviel Pluralismus kann eine Gesellschaft aushalten? Interview: Ulrich Gutmair