„Die Vertreibung war ein großes Tabu“

■ Mit „Die Gunnar-Lennefsen-Expedition“ hat Kathrin Schmidt das 20. Jahrhundert als Familiensaga aus der Sicht der Frauen erzählt. Ein Gespräch mit der Autorin über ihren Roman, die DDR, Ostpreußen, Günter Grass, Irmtraud Morgner und über das Leben in der Provinz

taz: Ihr Roman spielt im Jahr 1976 in der DDR-Provinz. Warum gerade 1976?

Kathrin Schmidt: 1976 war für mich bedeutend, weil ich da meine thüringische Kleinstadt verließ und nach Jena ging, um Psychologie zu studieren. Da war gerade Jürgen Fuchs exmatrikuliert worden, dann kam die Biermann-Ausbürgerung. Das war für mich sehr wichtig, ein Art erstes Aufwachen.

Warum spielen diese Ereignisse dann im Roman keine Rolle?

Das wollte ich eben so. Immerhin fällt ja der Geburtstermin für Josephas Kind fast genau auf den Tag der Biermann-Ausbürgerung.

Warum hat es so lange gedauert bis zu diesem Roman?

Das hatte damit zu tun, daß meine Urgroßmutter noch lebte. Ich wollte nicht, daß sie das liest.

Die Figur der Urgroßmutter Theresa hat ein reales Vorbild?

Ja. Ich hatte eine sehr enge Beziehung zu ihr. Sie und ich hatten ein gemeinsames Zimmer bis ich 15 Jahre alt war. Sie kam auch tatsächlich aus Ostpreußen und hat im Gegensatz zu meinen Eltern, die die ganze Vertreibungsproblematik völlig tabuisiert hatten, mit mir darüber gesprochen.

Sie zeichnen ein heiteres, durchaus entspanntes, aber dennoch ungeschöntes Bild der DDR. Direkt nach der Wende wäre dieser Tonfall wohl kaum möglich gewesen.

Es hat mich immer gestört, wie nach der Wende der Alltag der DDR weggeblendet wurde. Wir sind doch nicht den ganzen Tag von früh bis spät irgendwelchen Nahrungsmitteln hinterhergejagt oder haben uns vor Parteiverfahren geduckt.

Die Rehabilitierung des DDR- Alltags gelingt Ihnen auch dadurch, daß sie nebenbei betrieben wird. Denn zugleich geht es ja um ganz andere historische Schichten, um eine Jahrhundertchronik und um die Geschichte der Vorfahren. Wie sind sie auf dieses Modell gekommen?

In der DDR gab es ein seltsames Herausfallen von Geschichten, die einem ganz alte Leute erzählten, die nicht mehr berufstätig waren, also auch nichts mehr zu befürchten hatten. Meine Urgroßmutter hatte ja schon den Kaiser erlebt und Hitler. Sie hat sich immer daran orientiert, wie viel sie jeweils zu essen hatten. Das war für sie der Maßstab der Dinge. Zu mir sagte sie: „Benimm dich ordentlich, wenn's wieder andersrum kommt.“ Also: Häng' dich nicht so rein. Daneben dann dieses strenge, kleinkarierte DDR-Leben, das meine Eltern führten. Das war stark von den deutschen Tugenden wie Fleiß und Ordnung und Pünktlichkeit durchwoben – und von großen Tabus. Eines davon war die Vertreibungsgeschichte, über die man in der DDR überhaupt nicht reden konnte. Man hätte ja sagen müssen, daß man vor den Russen geflohen ist. Ein zweites Tabu in meiner Familie war die Geschichte meines Vaters.

Was geschah mit ihm?

Er war ein junger Mann, noch keine 20, als er 1946 zusammen mit vielleicht 15 anderen zu 25 Jahren Zwangsarbeit wegen Spionage verurteilt wurde. Das war ja damals gang und gäbe. Meine Großeltern haben sieben Jahre lang nicht gewußt, wo er ist und ob er überhaupt noch lebt. Und ich erfuhr von all dem lange überhaupt nichts. Meinen Vater, der Lehrer war – auch noch an meiner Schule! –, habe ich immer als extrem gläubigen und linientreuen Menschen erlebt. Stur verteidigte er alles, was selbst uns naiven Kindern auffiel, daß es nämlich in den Betrieben anders aussah, als es in den Zeitungen stand. Von seiner Gefängniszeit erfuhr ich erst mit 18, als ich einen Fragebogen fürs Studium ausfüllen mußte. Da stand als Vorstrafe des Vaters: 25 Jahre Zwangsarbeit. Das hat mich total schockiert. Ich sah dadurch meine ganze Kindheit entwertet, weil ich glaubte, er habe mir, was er eigentlich dachte, verschwiegen. Aber vermutlich hat er sich tatsächlich arrangiert.

In Ihrer Familiensaga wiederholt sich ständig das Verschwinden der Männer, die eigentlich unwichtig sind. Und doch beharren die Frauen nachdrücklich auf der Bedeutung der Familie. Warum?

Ich wollte das, was sonst immer nur als große Geschichte apostrophiert wird, ins Persönliche übersetzen. Und das, was innerhalb der Familie passierte, ist am ehesten wieder auffindbar und wiederherstellbar. Möglicherweise ist das aber auch eine ganz typische DDR-Kiste. Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre gab es eine regelrechte, auch offiziell goutierte Mode, große Geschichte ins Kleine zu drehen. Das, was immer als historischer Block gesetzt wurde, wie Geschichte zu betrachten sei unter marxistisch-leninistischem undsoweiter, sollte ins Persönliche übersetzt werden. Es kann sein, daß mein Roman ein Reflex auf diese Mode ist.

Ist „Die Gunnar-Lennefsen- Expedition“ ein emanzipatorischer Roman?

Ich weiß nicht. Der Anteil der Frauen am Verschwinden der Männer wird ja als Problem zumindest angesprochen: Therese, die ihren Sohn abgedrängt hat, und die auch den Vater Josephas wegdrängt, um das Kind zu behalten. Da wird auch thematisiert, wie Frauen in ihrem unmittelbaren Umfeld mit einer vielleicht ins Kleinere übersetzten Macht jonglieren.

Aber es geht doch um eine Geschichte, in der die Frauen die Hauptrolle spielen.

Ja, schon. Historisch geht es selbstverständlich um Emanzipation. Aber wenn wir in der Gegenwart ankommen, muß ich bereits die Frage stellen, was davon bleibt. Also: Was kann man jetzt auf der Habenseite abbuchen für die Frauen, und was stehen jetzt für Fragen in bezug auf Männer an oder in bezug auf die derzeitige gesellschaftliche Struktur.

Sie betonen in ihrem Roman sehr stark das Erotische, Lust und Körperlichkeit. Erotik derart als Freiheitsraum zu erleben scheint mir auch sehr DDR-haft zu sein.

Ja, unbedingt. Da konnte eben so schnell keiner reinreden. Ich kam aus einer ziemlich lustfeindlichen Familie und bin in einem Kleinstadt-Klima aufgewachsen, wo es in den 70er Jahren übereinanderliegende Moralstrukturen gab. Offiziell war eine alleinstehende Frau mit Kind nichts Anstößiges. Aber auf kleinstädtischer Ebene wurde das selbstverständlich zu etwas Unmoralischem. Ich bekam damals zwei Kinder, ohne daß es einen Vater in sichtbarer Reichweite gegeben hätte.

Ich hielt das für mein gutes Recht. Wie die mich angeguckt haben, war mir völlig schnuppe. Ich hatte kein Gefühl für strukturelle Gewalt gegen Frauen und nie den Eindruck, daß ich mich in dieser Hinsicht von der Gesellschaft emanzipieren müßte.

Im Roman erstaunt der allgegenwärtige, massive Kinderwunsch all dieser Frauen.

Zum Ende der DDR-Zeit hat es mich schon beschäftigt, daß wir sehr jung ziemlich viele Kinder hatten. Sich diesen Lebensraum nicht nehmen zu lassen hatte auch etwas Mißbräuchliches den Kindern gegenüber. Beruflich konnte ich nicht das machen, was ich wollte. Ich war in einer Poliklinik angestellt und mußte reihenweise Routinediagnostik im Rahmen des DDR-Schulwesens machen. Wir hatten kaum die Möglichkeit, therapeutische Ansätze zu verfolgen, hatten uns zwar ständig weitergebildet, stießen aber immer irgendwann an eine Grenze, wo es hieß, bis hierher und nicht weiter. Und so dachte ich: Wenn du schon nicht nach Amerika kannst, dann kannst du auch Kinder kriegen. Da kann dir keiner reinreden.

Zwei literarische Vorbilder sind in der „Gunnar Lennefsen- Expedition“ unübersehbar: Günter Grass und Irmtraud Morgner. Die Figur des Adam Rippe etwa – ein Mann, den eine Frau aus ihrer Rippe schnitzt – kommt auch im jetzt erschienenen Romanfragment von Irmtraud Morgner (“Das heroische Testament“) vor.

Wirklich? Das wußte ich nicht. Das ist ja fast peinlich. Irmtraud Morgner ist vielleicht die erste Autorin aus der DDR, die ich las. Zur Jugendweihe bekam ich von einer Patentante, einer Deutschlehrerin, die „Trobadora Beatriz“ geschenkt. Ich verstand vieles nicht, aber ich war total fasziniert. Mir war das völlig fremd und völlig neu, aber ich merkte, das ist etwas ganz Tolles. So möchtest du auch mal sein als Frau. Dann habe ich nie wieder gewagt, etwas von ihr zu lesen, weil ich dachte, zwei solcher Bücher kann man bestimmt nicht schreiben. Erst jetzt, nachdem jemand sagte, mein Roman sei so ähnlich, habe ich wieder darin herumgelesen. Immer wenn der Name Morgner in bezug auf meinen Roman fällt, wehre ich mich innerlich dagegen, aber das muß mich sehr geprägt haben. Etwas Ähnliches hatte ich später noch einmal mit einem Buch von Günter Grass – tatsächlich. Das war nicht „Die Blechtrommel“, sondern „Der Butt“. Da gab es auch dieses Gründeln in der Geschichte. Das las ich nicht mehr so naiv und euphorisch wie damals als Kind Irmtraud Morgner, aber das war auch sehr wichtig. Interview: Jörg Magenau