Im Liegen betrachtet

Angela Krauß läßt den Bitterfelder Weg von einer Eisprinzessin auf dem Schlammteich tanzen. „Sommer auf dem Eis“ – eine poetische Erzählung vor Deponiekulisse  ■ Von Ihne Steen

Gibt es eine zartere, heiterere und traurigere Geschichte als die von der Eisprinzessin auf dem Schlammteich bei Bitterfeld? „Als Kind habe ich siebenunddreißig Stifte zu Stümpfen geschrieben. Einhundert Briefe schrieb ich dem ersten Mann, der mich küßte. Nach dem Kuß wollte ich, daß er wußte, wer ich bin. So wie keinem Menschen wollte ich mich ihm zeigen; in einem Alter, in dem sonst Königskinder vergeben werden, faßte ich diesen Entschluß. Ich war Eisläuferin. Er Römer.“

Eine Frau erinnert sich. Sie ist arbeitslos, der „Wechsel der Besitzverhältnisse“ in ihrem gewesenen Staat liegt sieben Jahre zurück: „Ich besitze jetzt Zeit.“ Jede Woche versucht sie, nach einem anderen Konzept ihr Leben neu zu sehen. Das hält jeweils bis mittwochs vor, dann kommt die Krise. Letzter Versuch: die Anschauung der Welt, wie das Kind sie sah. Denn „nur als Vergangenheit läßt sich das Leben so herrichten, daß man halbwegs etwas erkennt“. Als die Frau noch ein Kind war, standen am Horizont schon die Chemiewerke von Bitterfeld, die jetzt bis auf eines stillgelegt sind. Mit ihrem Geliebten auf einer Decke im Gras liegend, erkennt sie den Umriß wieder: „Manches hat sich nicht verändert, im Liegen betrachtet.“ Sonst allerdings fast alles. Das Kind war Eisläuferin, und was man über das Eislaufen, über die Figuren und Bewegungen nur wissen kann, die Frau weiß es noch. Am wichtigsten aber ist, daß sie sich erinnert, wie sich das Eislaufen anfühlte. „Ich dachte an den großen Oleg, und das befähigte mich zu einem schönen Schlangenbogen- Dreier im Alter von elf Jahren. Das Eis krachte, als würde unten auf dem Grund ein Haus abgerissen. Alle flohen ans Ufer, nur der kleine Mann und ich schnitten entschlossen diese Figur in das Eis.“

Alles taucht wieder auf unter dem Eisgrund der Gegenwart: wie der kleine Freund Blume, von seiner Familie als Idiot gehalten, gleich einer Pflanze im Blumentopf auf dem Fensterbrett verharrte und eines Tages, draußen sauste die „Friedensfahrt“ vorbei, seine Handballen durchs Glas drückte, bis das Blut in dunklen Rinnsalen herunterlief. Wie die Schulkameradin Annelore ihren Mädchen-Busen in einem „Gestell“ verbarg, aber als sie nach dem Schwimmen aus dem Becken kletterte, hing ihr eine Brust aus dem Badeanzug heraus. „Das war es also: sie hatte zwei. Zwei einzelne. Es war keine Brust, wie sie bei Kindern, Männern und Brusttee vorkam. Es waren Brüste. Und eine konnte tun, was die andere nicht tat.“ Und dann natürlich Angelo Molina, Pionier der italienischen KP-Jugendorganisation, der erste „Mann“, der sie küßt: auf einem Friedhof, mit geschlossenen Lippen. Sein Rom stellt sich das Mädchen vor wie sein eigenes Zuhause, „Grasnarben, die warmen Schlammlachen, die Chromteiche und Phenylsümpfe“. Nur wärmer.

Etwa so, wie es jetzt ist, im „heißesten Sommer des Jahrhunderts“, in dem sie ihr Leben durch Vorstellungkünste noch einmal herumzubiegen versucht. Man sieht sie über Industriedeponien wandern, auf dem Arbeitsamt sitzen oder dem erwachsenen Blume, nun ein verrücktes Rechengenie, die Aufgabe stellen, im Kopf die Wurzel aus 7.842 zu ziehen. Bis zur Seite 59 genau zählt Angela Krauß' Erzählung zum Verzaubertsten, was man übers Kind- und Erwachsensein überhaupt lesen kann: ein Text wie in Trance. Anfangs liegt die Frau mit ihrem schlafenden Liebsten auf einer Decke im Gras, in der Hitze steht die Zeit still, ein Niemands-Ort, Ursprung der Erinnerung. Gerade gegenüber aber, in der einzig noch arbeitenden Fabrik, versucht eine Kesselwärterin die sich ankündigende Explosion zu verhindern. Zehn Sekunden bleiben ihr, aber sie weiß, gleich wird ihr das Leben weggerissen. Wären diese zehn Sekunden vor dem endgültigen Aus und das, was die Erinnerung währenddessen weit in die fünfziger Jahre zurückträgt, alles – es wäre eine der schönsten Erzählungen, die man sich denken kann.

Aber dann ist da plötzlich jener Krisentag, an dem die Frau an den Rand des Schlammteichs tritt, auf dem sie einmal die Eisprinzessin war. Denn es klappt nicht, sie kann sich ihr Leben nicht glücklichdenken: „Es war nicht notwendig, daß es mich gab.“ Da will sie sich wohl ertränken, und dann wäre die Geschichte aus. Doch schon fährt, hastdunichtgesehn, ein „weißes Schiff“ heran! Und hat symbolisch schwer geladen an „Sorglosen“ und „Nachdenklichen“ aus aller Welt, die das über dem Industriegift neugewachsene Naturparadies bestaunen wollen. Und davor erscheint in der Rückenansicht die nun plötzlich in der dritten Person beschriebene Frau und betrachtet dies „wie eine Landschaftsstudie auf einer Porzellantasse“: Caspar David Friedrich vor Bitterfeld.

Hier kracht nun auch der Ideologiehammer wuchtig ins Gefüge: Zwei Ex-DDRler streiten sich, es kommt zum Aufruhr, ein „Selbsternannter“ übernimmt das Kommando, und „weil sie keine Vorgeschichte kannten, blieb ihnen nur blinder Gehorsam“ – was man zuvor als ironisch gebrochene Naivität einer Frau auf der Suche gelesen hatte, hier mit einem Mal erscheint es finster ernst. Und das erst recht, wenn sie allein durch ihre Anwesenheit Frieden stiftet und die Menschen ihr ihre Geschichten zu erzählen beginnen, all diese „unermüdlichen, tapferen Erfindungen ihrer selbst“. Da ist dann die Havarie der Erzählung besiegelt, und mitsamt fliegendem Unterteil möchte man diese „Porzellantasse“ gleich an den blendend weißen Schiffsrumpf sausen lassen, bekäme man dafür nur die schwebende Lebendigkeit des Anfangs zurück. Aber daraus wird nichts: Nur noch eine Sekunde bleibt der Kesselwärterin nach diesem Puppentheater. Und sie ist es schließlich, die einem wirklich leid tut: Sie tut, was sie kann.

Angela Krauß: „Sommer auf dem Eis“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998, 108 Seiten, 28 DM